SHIFT: Grossgeschriebene Improvisation

Mullbau Luzern, 16.1.2014: Unter dem Namen «SHIFT» begegnen sich elektronisch und akustisch fünf Spitzen-Könner ihrer Instrumentalkunst. Luzern ist mit Zürich, Köln und Wuppertal einer der raren Orte auf dem aktuellen Tourneeplan. Die Konzertbühne des Mullbaus lässt diese Quintessenz kollidieren. Eine reale Chance – intensiv dabei zu sein. Pures Lebenselexier. Extrem schön.

Ein Donnerstagabend mit Wind in den Haaren. Der Programmpunkt magnetisiert und so nimmt das angereiste Publikum kurz vor Konzertbeginn seinen Platz ein. Der Mullbau, ein beseelter Hotspot für Experimentelle Musik. Die präparierten Instrumentensets auf der Bühne wirken wie verwobene Inseln. Ganz vorne links steht ein offenes Piano und dahinter ein Kontrabass. In der Mitte zwischen zwei Stereo-Boxen positioniert; das reisetaugliche Kultgestein eines analogen Synthesizers. Ein Schlagzeug nistet rechts davon und davor auf einem Stuhl liegt griffbereit eine Bassklarinette. Ebenfalls zieht ein knallroter Apfel den Fokus auf sich. Wann wird der wohl angebissen? An einem der wichtigsten europäischen Avantgarde Festival in Köln zusammengefunden, besteht die Formation seit 2008. Allesamt sind Vollblüter der Freien Musik-Szenen mit langen künstlerischen Lebensläufen. Die besondere Charakteristik von «SHIFT» verspricht Überlagerung und Verschiebung musikalischer Texturen. Mit gezieltem Gang betritt die Gruppe den Bühnenraum und steckt kurz die Köpfe zusammen. Meine Nachbarin schmunzelt und meint: «Das ist ja wie in einem Stadium!» In diesem Sinne, muss auch ich an Teamsport denken.

Zäg. Die Musiker legen los. Unverkrampft aber hoch konzentriert wird an jedem Klangkörper atmosphärische Struktur gestrickt. Es entwickelt sich eine würzig-atmende Resonanzwildnis, die sich als starke Dichte zu transformieren vermag. Martin Blume fasziniert als dezentes Chamäleon mit sensibler Perkussionskraft im rhythmischen Getriebe. Die Bass-Klarinette vom Frank Gratkowski wärmt performativ und reizt sich wohlig mit den eisigen Sinushöhen, welche Thomas Lehn aus seinem Synthesizer zaubert. Stetig lauern facettenreiche, gegenseitige Modifizierungen. Spannungsgeladen entwickelt sich eine geballte Dynamik, die sich in ihrer Maxime nur noch in Bewegungsunschärfe beobachten lässt.

Das Tempo entschleunigt, die Präsenz bleibt. Philipp Zoubeck, wirbelt mit packenden Mustern über sein Piano. Gemischt mit Lehms knackenden Pulsen entstehen transparente Soundflächen. Händegelenke werden kurz gelockert. Gratkowski wechselt zum Alt-Saxophon. Plötzlich färbt melodiös Dieter Manderscheids Bassgeige das Geschehen und Zoubeck antwortet mit Akkordfolgen. Eine komplett neue Szenerie und man spürt was Suchendes. Dann der absolute Megaschub. Unvorhersehbar kippt eine knirschende Reibung zur absoluten Monsterumwälzung. Das Publikum lauscht mit stockendem Atem der übergigantischen Dimension einer fünffachen Plattentektonik. Darunter glühende Lava, gefährlich und wundervoll porös. Geologen kommen ins Grübeln. Unter meinem Ohrenpaar pocht das Herz. Nach dieser Superlative legt das bisher respektvolle Spiel von Lehm seine elektronischen Nuancen offen. Worauf auch die Anderen wesenhaft reagieren und energievoll nochmals ein neues kontrastvolles Skelette entsteht. So finden die akustischen Abenteuer ein geräuschvoll rhythmisches Fade out. Jetzt applaudiert das Publikum begeistert. HIGH FIVE! Explosion.

Frank Gratkowski (saxophones, clarinets) Thomas Lehn (analogue synthesizer) Philipp Zoubeck (piano) Dieter Manderscheid (bass) Martin Blume (drums, percussions)