Querköpfe zum Zweiten – «Rosen für Herrn Grimm» im Kleintheater

Das Kleintheater feiert die Schrulligkeit, und wir feiern mit. Diesmal bei einem skurrilen Stück über Demenz und Vereinsamung.

Wilhelm Grimm ist alt, achtundachtzig, auch wenn er sich selbst als sechsundsiebzig bezeichnen wird, leidet an Demenz und wohnt vereinsamt in seinem Haus. Sein Bruder, Jakob, und Dorchen, seine Frau, sind längst gestorben, er verwahrlost mehr und mehr, nur mehr in der Erinnerung lebend. Sein einziger Kontakt zur Aussenwelt ist die missmutige Spitexfrau Johanna Jöhri. So die Ausgangslage von «Rosen für Herrn Grimm», einem Eine-Frau-Stück von Katja Baumann und Ueli Bichsel. Blick auf eine chaotische, anrührend altmodische Bühne, aus dem Off die Geräusche eines genussvoll Badenden, ein Liedlein wird gesummt – Wilhelm Grimm scheint es doch recht wohl zu sein. Das ändert sich schlagartig, als Spitexfrau Jöhri anlangt, die Regenpelerine ausschüttelt und mit resolutem St. Galler Dialekt sich daranmacht, ihn aus dem Bad zu scheuen («Nöd d Haar nass mache! – Arrgh, scho z schpaat!»). Während Grimm sich anzieht, beginnt sie, das Wohnzimmer aufzuräumen, scheitert aber grandios an der herkulischen Aufgabe, was zu einigem Slapstick führt – etwas zu viel des Guten, dünkte es einen, und man sah der kommenden Stunde leicht skeptisch entgegen. Man sollte aber schnell eines Besseren belehrt werden.

Grimm hat die Garderobe mittlerweile vollendet und wird von Jöhri auf einem antiken Rollstuhl ins Wohnzimmer gefahren. Eine schön gemachte Puppe mit grossem Ausdruck, in einen alten Gehrock gekleidet mit Vatermörder, Halstuch und Seidenweste. Es folgt ein erster Dialog am Teetisch, der unaufdringlich mit den Figuren bekannt macht: hier der demente Grimm, der wieder und wieder die gleichen Fragen stellt, da die genervte Spitexfrau, die schon längst zu einem anderen Patienten sollte und dem alten mit Ungeduld begegnet. Der aber beharrt auf dem Kontakt, wird zunehmend luzid und schafft es schliesslich, Jöhri für sich einzunehmen, ein Band herzustellen. Er berichtet von seinem Bruder und wie eine Eule ihnen des Nachts Geschichten (die Grimm’schen Märchen eben) ins Ohr geflüstert habe, die Jakob dann im Wohnzimmer aufgeführt habe. Er bringt Jöhri dazu, mit ihm nach Jakobs verschollenem Koffer mit den Theaterkostümen zu suchen, und schliesslich dazu, in die Kostüme zu steigen und Jakobs Part zu spielen (kurz wird man hier auch Baumanns fantastischer Singstimme gewahr – man hätte sich mehr davon gewünscht. Die letzte Verkleidung stellt den Tod dar – der Grimm schliesslich auch ereilt, er entschläft in Jöhris Armen, glücklich, in seinen letzten Minuten der Einsamkeit entgangen zusein, die Fantasierte Vergangenheit wiedererlebt zu haben.

Katja Baumann spielt die beiden Rollen sehr diszipliniert, bedient sich des Ostschweizer Dialekts (der allerdings, als sie die Märchen erzählt, ins Zürcherische abgleitet) und einer hellen Stimme als Johanna Jöhri und lässt die Stimme nur leicht dunkler werden, wenn sie auf Hochdeutsch den Grimm gibt. Das Spiel mit der Puppe ist unaufdringlich, aber makellos, Grimm beginnt schnell zu leben. Auch die sentimentalen Passagen meistert sie ohne Kitsch und Pathos; Baumann verfügt über viele Register, die sie aber nie in den Vordergrund drängt – ausser in der erwähnten Slapstick-Sequenz zu Beginn  wird die Geschichte nie von den Effekten überrollt.

Und diese Geschichte wird schön erzählt, breitet sich gemächlich, aber stetig aus. Wohl kam uns der Wechsel von der genervten Pflegefrau zur freudigen Koffersucherin und Vorspielerin etwas gar hastig vor – hier könnte man an der Dramaturgie noch etwas feilen –, und der Bezug zu den Gebrüdern Grimm (Wilhelms Frau hiess tatsächlich Henrietta Dorothea, also Dorchen) wollte uns nicht ganz einleuchten. Aber die Geschichte ist wunderschön, farbig und lebendig, und noch kaum je hat man einen schöneren Tod gesehen auf der Bühne. Tabuthemen wie Verwahrlosung und Demenz werden auf sehr einfühlsame Weise behandelt, nie gleitet der Witz ins Unangenehme ab. Und Baumanns Spiel ist schlicht grossartig. Wer also immer die Gelegenheit hat, Katja Baumann und «Rosen für Herrn Grimm» zu sehen, sollte es keinesfalls verpassen – Tourdaten hier.