Querköpfe zum Dritten - «Regula – Alle Tage sind Alltage» von Denise Wintsch

Dieses Stück nun war für Pirelli die grosse Entdeckung während der Querkopf-Woche. Kaum je sah man eine liebevoller ausgestaltete Figur, kaum je einen Menschen mit grösserer Ichstärke, kaum je fand man sich so berührt – und so superb unterhalten.

Regula schaut zum Fenster raus und wundert sich. Der Sommer geht vorüber, die Vögel ziehen in den Süden, Regula aber bleibt wo sie ist und wie sie ist. Am Boden und allein. Also schnallt sie sich an die Pauke und hebt ab. Ein Blindflug wie das Leben, ein Flugtraum wie die Liebe. Und dann und wann Bruchlandungen im Alltag. Regula bleibt eine Wundertüte. Sonja ruft nicht zurück, die Guggenmusik wartet zu, das Weihnachtsessen steht vor der Tür, und Mäse weiss von nichts. Ein Theaterstück über das Erfinden und Finden des Glücks, und das Träumen, das allein halt am schönsten ist. So lautet der offizielle Beschrieb, wir stellen ihn hier hin, weil er den Geist des Stücks so schön umschreibt. Die Idee zu Regula, so Denise Wintsch, kam ihr, als sie einen ganzen Tag ergebnislos im Brockenhaus verbrachte, um eine neue Figur zu finden. Mehr aus Frust kaufte sie kurz vor Ladenschluss eine übergrosse Hose – von da an sei alles sehr schnell gegangen, die Figur sei innert Minuten entstanden, bis hin zur Dioptrienstärke und zur T-Shirt-Farbe. Der Fettanzug sei ihre Doktorarbeit gewesen – weil sie so lang daran habe herumdoktern müssen. Wer ist nun diese Regula? Sie gehöre zu den Menschen, so Wintsch, die dem Leben etwas langsamer begegneten, und arbeite in einer Küche. Für den Betrachter ist Regula vor allem eines: ungeheuer liebenswert und mit einer überbordenden Fantasie gesegnet.

Zu Beginn des Stücks erklingt leises Vogelgezwitscher, man merkt schnell, dass es aus den Kopfhörern dringt, die Regula trägt. Die Bühne ist fast leer, weist wenige Fixpunkte auf: eine Art Telefonkabine, einen hängenden Plastikzylinder, ein Duvet, Turnschuhe und Moonboots. Gemächlich breitet sich die Geschichte aus, in Echtzeit erfahren wir, wie Regula ihre Freizeit verbringt, und wir lernen die Themen kennen, die sie grad umtreiben: Da ist ihre Freundschaft mit Söne – die aber nie Zeit hat für sie, sondern sie am Telefon immer abhängt; da ist ihr Wunsch, in einer Guggenmusik mitzuspielen – weswegen sie fleissig Pauke übt; da ist ihre Schwärmerei für Mäse – der aber am Betriebsfest den ganzen Abend mit Frau Erni getanzt hat. Und wir lernen viel über Regula selbst und ihren Umgang mit Zurückweisung, von der ihr ein Übermass begegnen wird im Verlauf des Stücks. Das Telefon klingelt, Regula wird vom Chef eingeladen, am Weihnachtsessen eine Produktion zu bringen. Egal, wie langsam sie sonst an das Leben herangehen mag, sie ist völlig kommunikativ, beherrscht alle Telefonfloskeln und beweist im Anschluss an das Telefonat, als sie ein Gedicht zu improvisieren beginnt, das sie vorzutragen gedenkt, einen wunderbaren, lustigen Umgang mit der Sprache. Doch da kommt ihr der Mäse in den Sinn und mit ihm die Frau Erni – und wir spüren ihre Verletztheit, merken, wie tief dieser nur vordergründig langsame und etwas schwatzhafte Mensch empfindet.

Doch Regula hat ein Rezept gegen Anflüge von Wut, Trauer und Niedergeschlagenheit – sie hört mit ihren Kopfhörern kurz laut Musik, dann lässt sie ihrer Fantasie freien Lauf: Etwas Alufolie um den Arm geschlungen, und flugs wird dieser zur Mondrakete, die erst zur Startrampe gefahren wird, dann, nach kurzem Countdown (Regula ahmt alle Geräusche sehr naturalistisch nach), werden die Triebwerke gezündet (die wild umherwedelnde freie Hand markiert den Rauch), dann hebt das Geschoss ab – Regula fasst die Alurolle an der Abrissstelle und lässt sie fallen, die Folienbahn simuliert so sehr schön die fette Rauchspur, die eine Rakete beim Start nach sich zieht. Überhaupt, was sich doch alles mit Alufolie machen lässt … wär das nicht perfekt für die Fasnachtsverkleidung? Also dekoriert sich Regula entsprechend, verkleidet das Bauchtäschli, baut sich eine Maske um die Brille, hängt sich ein Superheldinnencape um – und telefoniert der Söne, um ihr die grandiose Idee mitzuteilen. Aber Söne hat wieder keine Zeit, und überhaupt, man nehme die Kostüme vom letzten Jahr. Wieder währt die Niedergeschlagenheit nur kurz – etwas Musik, dann sieht sich Regula plötzlich als Chefköchin im Luxusrestaurant, kommandiert ihre Untergebenen herum und richtet mit unnachahmlicher Effizienz Dutzende von Menüs an. Wieder kommt ihr Mäse in den Sinn, ein Ballon wird zum Schwarm, zum Tanzpartner – ungemein poetisch sind die Bilder, so sparsam die Requisiten auch sein mögen.

Doch nach jeder Eskapade räumt Regula wieder auf: Sie hat schon genug Zirkus im Kopf, die physische Ordnung hält ihr Leben wie eine Klammer zusammen. Doch da war doch noch die Fasnacht … also wird mühsam die Pauke umgeschnallt und ein Marsch geübt – mit Metronom, wie es sich gehört. Der Marsch gelingt, Regula sieht sich schon mitten in der Guggenmusik, man besammelt sich gerade für den Umzugsbeginn. Ungemein fröhlich simuliert sie nun all die Begegnungen mit ausgelassenen Menschen, die sie haben wird; bis ihr in den Sinn kommt, dass sie ja noch dem Guggenmusikchef zu telefonieren hat. Allein, der ist nicht zuhaus, also Telefonhörer auf die Pauke gelegt, der Marsch wird auf den Anrufbeantworter gespielt. Nun kommt ihr die Rakete wieder in den Sinn, sie steigt in die Moonboots, schnallt sich die Pauke auf den Rücken, ein Glaspfannendeckel wird zum Helm, die Pauke zum Pilotensitz, und los gehts zum Mondflug.

Plötzlich ist das Duvet die Mondoberfläche und Regula – in Zeitlupe, wie es sich gehört, eine Astronautin. Die verkehrt herum auf das Duvet geworfenen Finken werden zu den legendären Schuhabdrücken (wahnsinnig humoriges und liebevolles Detail!), die Telefonstation zur US-Fahne, die Amstrong und Aldrin vor Millionenpublikum aufstellten. Nun, wenn das Telefon grad so zur Hand ist … «Hallo, Söne, rat mal, wo ich bin … nein, ich hab jetzt keine Zeit …» – subtile Rache. Jetzt nimmt das Stück eine weitere Wendung, aber grad alles wollen wir nicht verraten, wahrscheinlich ists so schon zu detailliert. Es ist ungemein eindrücklich, zu merken, wie Wintsch die Figur nicht einfach spielt, sondern zu ihr wird. Das Timing ist perfekt, Regulas verschiedene Fantastereien geben der Schauspielerin ausführlich Gelegenheit, ihre Register zu ziehen – und von denen verfügt sie über eindrücklich viele, die aber mit wunderbar bescheidener Selbstverständlichkeit ausgespielt werden und nie pompös oder effekthascherisch wirken. Als ich am Mittwoch mit Denise Wintsch die Garderobe teilte und wir uns für den ersten Querkopf-Abend aufnutteten, wurde ich Zeuge dieser wunderbaren Verwandlung: Kaum waren Fettanzug, Brille und leicht verlängerte Schneidezähne montiert, sprachen Timmermahn und ich nur noch mit Regula. Die Verwandlung geschah so blitzartig und unauffällig, dass wir eine ganze Weile brauchten, um uns ihrer bewusst zu werden, derart selbstverständlich war die Figur plötzlich präsent. Nun habe ich mit etlichen SchauspielerInnen schon etliche Garderoben geteilt, aber so etwas so Frappantes begegnete mir dabei nie. Es ist eine der Stärken der Figur, respektive von Denise Wintsch, dass Regula bis ins kleinste Detail ausgestaltet ist.

Die Figur ist so rund, so vollständig und doch mit so wenig Routine bestraft, dass man sie sogleich ins Herz schliesst, sie sofort zu kennen meint. Wintsch setzt Regula auch für andere Projekte ein, so gründete sie die Zunft zum Ftämbel und wollte mit ummontiertem Pappmaché-Pferd beim Sächsilüüte um den Böögg reiten, was ihr aber von den männlichen Zünftern handfest verwehrt wurde: Frauen reiten nicht am Sächsilüüte. Wer Denise Wintsch mit ihrer Regula sehen kann, möge es ohne Umschweife tun – etwas Schöneres, Lustigeres, Liebevolleres als «Alle Tage sind Alltage» lässt sich kaum vorstellen.

Ja, ich weiss, die Berichte kommen absurd spät, und es werden noch drei weitere verspätete folgen. Die letzten Tage waren gar streng, aber fortan schreibe ich pünktlicher. Versprochen. Immerhin kann ich allen frustrierten Singledamen, zwei davon haben wir eben kennengelernt, ein kleines Trostpfläschterli anbieten: Beim Salon Eduard an der Hirschmattstrasse gibts währschafte Herren im Sonderangebot – nur 28 Stutz!