Neuer Wind feiert eigene Höhepunkte

Jazz Festival Willisau, 01.09.2016: Das Willisauer Jazzfestival in seiner 50. Ausgabe startete in die zweite Runde. Zwar traten keine amerikanischen Grössen auf, die viel Publikum versprechen. Am ungewissen Donnerstagabend wurden die Erwartungen jedoch übertroffen: ein kontrastreiches Programm sowie zum Mitdenken anregende Darbietungen.

(Bilder: Marcel Meier)

Am späten Nachmittag eröffnen The Knocked Out Rhythms musikalisch den Tag. Von der Sonne stimmig temperiert dröhnen die Verstärker. Es scheint, als hätte Sämi Gallatis Band-Echo von der Hitze eine gute Ladung Desert-Bluesrock abbekommen. Er, Gitarrist, und sein Duo-Partner Claudio Strebel am Kontrabass rockten lässig und souverän von Rockabilly über Blues, von Hendrix bis zu Jazzstandards wie Caravan. «Das Zauberwort lautet ... Ssswiiing», erklärt Gallati in der Pause. Dabei dachten wir,  es gehe um Rock?! Trotz genretechnischen Ungewissheiten: Nicht nur dank dieser Einstellung, sondern auch durch ihre hohe musikalische Qualität passen die beiden bestens an diesen Anlass. Schmid_Willisau-1 Bei diesen Rockmelancholien war ein träumerisches Kopfnicken und Mitwippen für den Moment auch schon der einzige Aufwand des Publikums. Gleich anschliessend wurde aber Konzentration und ein «sich einlassen» gefordert. Nun ja, einlassen sollte man sich in jedem Fall auf die freie Improvisation. Auf das Eve Risser Trio «En-Corps» jedoch in einer Form, dass man sich abgeholt fühlt. Die ersten zehn Minuten erscheinen wie eine Sensibilisierungskur für die Ohren. Leichtfüssig und entschlossen steuert das Trio einem Ziel entgegen. Nichts wird vorweggenommen, nichts kommt weder zu früh noch zu spät. Die Einsätze sind klar, keine grösseren Klangflächen, rhythmisch zum Teil tänzerisch präsentiert sich das Trio. Erstaunlich ist das offensichtlich grosse Verständnis, das die Musiker füreinander haben, spielten sie doch erst eine CD zusammen ein. An Erfahrung mangelte es den Musikern gleichwohl nicht. Die sich mit der Zeit fixierende klangliche Melange bildet sich aus dem präparierten Klavier der Leaderin, dem warmen, dezent gezupften oder gestrichenen, stets auf dem Boden bleibenden Kontrabass, gespielt von Benjamin Duboc, und dem stets verspielten und einfallsreichen Schlagzeuger Edward Perraud. Mit dem erwähnten Intro wird der Bogen gespannt. Für eine gute Stunde lässt sich nun eintauchen in den Klang, in scheu aufflackernde harmonische Bezüge und in thematische Vielseitigkeit. Ein Element, das eines scheppernden Rauschens, erzeugt durch einen Blechbehälter mit eisernem Inhalt, platziert auf den Pianosaiten, erkennt man wiederkehrend. Ein bewusstes Symbol für etwas? Düster verträumte Entfremdung vielleicht? Oder reine Vorliebe? Eve Risser 160901_©MarcelMeier Artistischer Höhepunkt bleibt – für einen Schlagzeuger auch der musikalisch-
technische –, wie Perraud seinen Stick auf die Trommel wirft und eine Armlänge über dem Kopf wieder abfängt. Vor- und nachher sah man diesen Artisten schon zwischen seinem Drumset liegen, vom Stuhl gefallen vor lauter Bewegungsfreudigkeit. Aus dem Publikum hört man immer wieder erstaunte Lacher. Keine Despektierlichkeit, ein grossartiger Musiker. Und zudem: So viel Humor trägt selten jemand über den Bühnenrand! Edward Perraud 160901_©MarcelMeier Die als «Songs of Work» angekündigten Kompositionen des Bassisten und Bandleaders Kaspar von Grünigen mit seinem Bottom Orchester bilden einen starken Kontrast zum vorhergehenden Geschehen. Auch hier ist geboten, sich einzulassen. Diesmal auf harte Kritik an der Arbeitswelt, um es genauer, gekürzt auf den Punkt zu bringen: am Neoliberalismus, der Unterdrückung der Frau und der Nichtwertschätzung der Arbeit, die ausserhalb eines profitorientierten Markts besteht. Die Kompositionen sind stark an die Sprache angelehnt. Sprachsequenzen lockern das Geschehen auf. Ohne diese wäre das Programm wohl eher eintönig. Gesprochen, zum Teil live von der stimmelastischen Sängerin, oder dann abgespielt als Tonaufnahme, wird über das oben kurz umschriebene Themengebiet Arbeit. Man fühlt sich oft an die Grundeinkommensdebatte von diesem Jahreswechsel bis Frühjahr erinnert. Eine Debatte, die richtigerweise nun auch durch Musik wieder aufgegriffen wird und hoffentlich nicht abflaut und sich mit einem plumpen Anschwärzen des Neoliberalismus zufrieden gibt. Kaspar von Grünigen bemüht sich um Lösungsansätze, um klare Forderungen: «Wir wollen …», sagen die Musiker. «… ein flächendeckendes Grundeinkommen», antwortet der Perkussionist durch einen Sprechtrichter. Solch eine zielgerichtete Rahmenhandlung sieht man selten. Zudem, ziehe ich meinen  Hut dafür, diese Leute auf die Willisauer Bühne zu holen. Hier flackert die politische Musik wieder auf, wie sie in den 70ern als Protest- und Alternativmusik in der freien Improvisation brannte, angeführt vom amerikanischen Free Jazz, aufgekommen in den 60ern. Heute sind die Kritikformen schwerer zu finden. Mit dieser Performance ist eine Möglichkeit dargeboten, die einem nicht abschalten lässt. Trotzdem geht sie tief. Kaspar von Grünigens Bottom Orchestra 160901_©MarcelMeier Musikalisch sind die «Songs of Work» extrem frisch. Die Rhythmen erinnern an Dampfmaschinen. Oder zum Teil scheinen sie wie ein Uhrwerk zu ticken. Die extrem polyphonen Melodien der Bläser und der Sängerin entstammen wohl der zeitgenössischen neuen Musik. Diese Mixtur verschmilzt zu einem aufregenden, beweglichen Groove. Erfrischend und neu! Es wird zwischendurch ziemlich düster, entsprechend den textlichen Ausführungen. Das letzte Stück ist dann der Soloauftritt des Komponisten: ein Text von ihm gesprochen über die scheinbare Alternativlosigkeit auf dem Arbeitsmarkt des Kapitalismus, der Redefluss von ihm auf dem Kontrabass zeitgleich nachgezeichnet. Und er zeigt: Stets ist dem erdrückenden Alltagsleben eine Alternative geboten. Seine darauf folgenden Ausführungen lauten wie der Songtitel: «Die Lärmalternative», also Musik.

Das Jazz Festival Willisau dauert noch bis am SO 4. September. Alle Infos: www.jazzfestivalwillisau.ch