Neue Musik im heissen Stollen

Südpol, 02.09.2016: Erstaufführung von Hermann Burgers «Künstliche Mutter» als Musiktheater. Das Ensemble Phoenix präsentierte im Rahmen des Lucerne Festival Michel Roths Romanadaption - ein anregender Abend, der etwas kürzer hätte ausfallen dürfen.

(Bild: zvg, Lucerne Festival)

Man wartet derweil. Der Dirigent Jürg Henneberger – in einer phantasievoll ausgeschmückten Offizierstracht der Schweizer Armee – kippt noch ein paar Schnäpse an der Foyerbar des Südpol und stösst mit seinem Adjutanten an; sie haben es nicht eilig. Man schwitzt derweil. Denn das Foyer, in dem die gesamte erste Hälfte dieser „depressiven Operette“ (so der Arbeitstitel) spielen wird, ist nicht nur brechend voll, es ist auch entsprechend heiss: Ein Vorgeschmack auf den stickigen Heil- und Höllen-Stollen, in den wir die nächsten zweieinhalb Stunden immer tiefer hineinfahren werden. Zuerst aber muss der Privatdozent Wolfram Schöllkopf seine Leidensgeschichte ausbreiten, teils gesprochen, teils im (a)harmonisch komplexen Stakkato der Neuen Musik. Ein unergründliches Penis-Leiden peinigt den Mann mit dem rückläufigen Haaransatz und der altmodischen Brille, zum Potenzverlust hinzu kommt seine Kündigung an der Eidgenössischen Technischen Universität. Schon glaubt er sich gerettet, als ihn eine ominöse Heilklinik im Gotthardmassiv zur Kur einlädt. Doch nach einem Eintrittskuss einer Krankenschwester sieht sich die „Malefizenz“ – wie ihn sein persönlicher Kurdiener maliziöse nennt – in den Bahnhof Göschenen verbannt. Ein Güterzug auf Durchfahrt Hier wartet Schöllkopf also auf die Fortführung seiner Therapie und die Zuschauer warten mit ihm – zusehends amüsiert, zuweilen auch verwirrt. Die erste Hälfte der Inszenierung sprüht vor Esprit und skurrilem Witz. Das zum Bahnhofsbüffet drapierte Foyer eignet sich vorzüglich, die grotesken Begegnungen mit Dorfbewohnern, pöbelnden Studentenverbindungen und halsstarrigen Militärs darzustellen. Unter den räumlichen und akustischen Bedingungen der ungewohnten Bühne (bzw. deren drei, im Raum verteilt) leidet jedoch die Verständlichkeit und Sichtbarkeit des Inhalts. Das ist schade: ein Güterzug, vollbepackt mit guten Ideen, rast am Zuschauer vorbei. Wer den Roman nicht gut genug kennt, kann dem nur staunend nachschauen. Beziehungsweise nachhorchen, denn musikalisch überzeugt die tour de force – vom feingedrechselten Dialog über das derbe Studentenlied zum genüsslich verhunzten Choral – auch ohne Textverständnis. In der zweiten Hälfte, die in der großen Halle des Südpol spielt, kommt das Stück dann gleichsam im Inneren des Gotthard zu stehen. Hier, wo Wolfram das entscheidende Treffen mit der „Künstlichen Mutter“, jenem eigens entwickelten esoterisch-psychologischen Heilkonzept, zur musikalischen und körperlichen Klimax vorantreiben sollte, wartet der Zuschauer nun wohl ganz gegen die Intention des Werkes. Das mag freilich auch Burgers Textvorlage geschuldet sein, die selber strapaziöse Längen aufweist. Und so, wie der Leser von Burger mit seiner artistischen Sprache fürs Warten belohnt wird, so entschädigt auch Michel Roths Adaption mit glanzvollen Momenten, etwa dem eindrücklichen Kontrabass-Solo des „sprechenden Gletschers“. Die Hitze verfliegt Während das Libretto des zweiten Teils weniger antreibend und mitreissend, dafür differenzierter und vor allem akustisch ausgewogener ausfällt, scheint der Inszenierung (Regie: Nils Torpus) die Ideen ausgegangen zu sein. Ganz klassisch frontal wird das Publikum angespielt, die Video-Einblendungen im Hintergrund evozieren kaum die beklemmende Stimmung der Heilstollen. Als Schöllkopf sich für gesund erklärt und selbstmächtig den Gotthard gen Süden verlässt um im Tessin zu sterben, erwartet man ein Feuerwerk der Selbstverzehrung – und erhält ein statisches Rezitativ der letzten Romanseiten. Das mag bewusst antiklimatisch gemeint sein und bleibt doch als verpasste Chance in Erinnerung. Die Hitze des Foyers ist nun endgültig verflogen. Eine weitere Schwierigkeit, dem selber schwierigen Text gerecht zu werden, macht sich in der zweiten Hälfte bemerkbar. Neben der starken Figur des Wolfram Schöllkopf verblassen die Frauenfiguren bis zur Belanglosigkeit. Im Roman ist Schöllkopfs Monolog immer schon auf ihn selber gerichtet, die Frauen also notgedrungen Mittel zum Zweck. Auf der Bühne wird das zur Hypothek. Der Tenor Robert Koller brilliert zwar als leidender Privatdozent (äußerlich übrigens täuschend dem Romanautor Burger nachempfunden, Kostüme: Nic Tillein). Die ganzen zweieinhalb Stunden vermag Koller jedoch nicht alleine zu stemmen. Die Frauenfiguren– femme fatales: Krankenschwestern, Hippie-Tanten und Büffetdamen, allesamt mit Perücken bestückt – bleiben trotz gesanglicher Stärke meist eindimensionale Staffage. Der Privatdozent ist von weiblichen Pappfiguren umgeben. Freilich enttarnt sich die Frauenfeindlichkeit Schöllkopfs durch ihre Überzeichnung selber; der Dramaturgie des Stücks hätte eine eigenständige Frauenstimme aber gut getan. Michel Roths Musiktheater wagt und gewinnt trotzdem viel; nicht nur versucht es einem sperrigen Stück Literatur gerecht zu werden, es findet dabei auch eine witzige und vielfältige musikalische Sprache, die der poetischen Sprache Hermann Burgers meist das (Schöllenen-)Wasser reichen kann.