Migma – Magma – Mugma – Mogma – Migm – Mig – Mimimimimi – MMMMMMMMMM

Über Performances zu schreiben ist etwa so, wie mit einem Löwen zu philosophieren. Bei Performances ist man immer versucht, Sinn beizulegen, Sinn im Sinne von «diese oder jene Handlung bedeutet das und das». Performances sind flüchtig, prozesshaft, einmalig, schöpfen aus der Präsenz des Augenblicks und verweisen lediglich auf das, was vorhanden ist: die Körper der PerformerInnen und gelegentlich einige Utensilien. Performances lösen Unsicherheiten aus: Hat man das verstanden, was da gezeigt wird? Wann beginnt die Performance, wann endet sie? Muss man es überhaupt verstehen? Wie schreibt man über Performances, versprachlicht man das Gesehene? Beschreibt man minutiös oder interpretiert man frei? Übrigens: beim Schreiben über Tanzproduktionen (vgl. Urs Hangarters Text Tarkowskij Tanzen) stellen sich oftmals diesselben Fragen...

Ich habe mir einen Ruck gegeben und versucht, einige meiner Gedanken während dem Besuch der Migma-Performance-Tage (was das genau heisst, weiss ich nicht) in der Produzentengalerie und im Verkehrshaus Luzern niederzuschreiben. Bilder der Lichtsignal-Auktion am Donnerstag von Veronika Spierenburg

(Von Andrea Portmann)

«Next Stopp Swiss Museum of Transport». «Mobilität», so das Motto der diesjährigen Migma-Performance-Tage. Da liegt ein performativer Abstecher ins Verkehrshaus Luzern nahe. Es ist halb Acht. In der neu gestalteten quitsch-gelben, Bahnhofschalter-ähnlichen Eingangshalle finden sich einige Leute ein. Wenige Jüngere, vermutlich Kunststudierende, einige Mittelbejährte (vor allem Frauen), und ein Seniorentrüppchen («Jetzt send mer alli sälber no e die Ufregige involviert, das fend ech spannend»). Wir könnten eine bunt durchmischte Schulreisegruppe sein, die auf den Zug nach Goldau wartet.

Beat Stalder, neben Judith Huber und Margarit von Büren seit 2001 künstlerischer Mitorganisator von Migma, hält eine unaufgeregte Rede und lässt die vergangenen zwei Migma-Tage Revue passieren. Ein Anlass für mich, das bereits Erlebte nochmals kurz in Erinnerung zu rufen.

Am Donnerstag hat das Festival mit einer Lichtsignal-Versteigerung in der Produzentengalerie begonnen. Alle Kunstschaffenden der Galerie haben an einem Nachmittag Laternen aus einer Konrad-Taschenlampe und Papier gebastelt, die vom Auktionator Simon Chen, der nicht nur mit dem Auktionsstock sondern auch am Laufmeter Sprüche geklopft hat. Einige der  Lampen waren durchaus kunstvoll, andere haben mich an meine eigene Seidenpapier-Laternen-Zeit erinnert, was natürlich genauso kunstvoll ist. An dieser Auktion wurde mir eines klar: Kunst ist IMMER politisch, auch wenn sie als sanft leuchtende Laterne daherkommt: denn der Schattenwurf einer Laterne kann aussehen, «wie Couchepins Leber», eine für zehn Franken versteigerte Laterne hat «mehr Wert als eine UBS-Aktie» und neun leuchtende Lampions sind «zwei mehr als sieben» (Zitate Simon Chen). Nach dieser Auktion ging's weiter im Stattkino, wo die Wechselwirkungen von Video- und Performancekunst rund ums Thema Mobilität erkundet wurden. Bei einigen Videos ist der Funken gesprungen, bei anderen hatte ich den Eindruck einer gewissen Beliebigkeit, einige waren viel zu langatmig...

Was performancemässig am Freitag gelaufen ist, darüber kann ich nichts berichten, denn an diesem Abend habe ich ein Wunder erlebt.

Unsere Schulreisegruppe setzt sich in Bewegung, Rolltreppe hinauf, durch einige Galaxien hindurch, durch aerische Sphären mit nostalgischen Flugzeugen, dann durch nautische Gefilde mit flotten Dampfern und schliesslich hinein ins weisse Kreuz. Mitten auf der Schweiz (Modell Masstab 1:20’000) liegt Steffi Weismann. Sie trägt Schweizerkreuzfinken. Langsam hebt sie ihre Oberarme und bringt die Zeigefinger oberhalb ihres Kopfes zusammen. Im Hintergrund ertönt eine Radiosendung in französischer Sprache, es geht um die Experimente im weltgrössten Teilchenbeschleuniger in Genf und um das bedeutungsschwangere schwarze Loch. Sind die beiden Zeigefinger zwei aufeinander prallende Teilchen? Um Weissmann herum liegen einige leuchtende sternförmige Lämpchen. Das eine stösst sie an, es beginnt nervös zu zittern, blinkblinkratterratter, sich zu bewegen, in verschiedenen Farben zu leuchten, sie holt einen schwarzen Stoffsack und packt es ein, es zappelt immer noch. Das ist das schwarze Loch. Es ist ganz still, ich höre den Magen der Frau neben mir Knurren – das ist auch ein schwarzes Loch. Es entspinnt sich ein Dialog zwischen zwei grauen Teilchen aus Schaumstoff, das eine Teilchen hat eine wissenschaftliche Computerstimme, das andere eine piepsende Kinderstimme – die Performerin hält die Teilchen in den Händen und spaziert auf der Schweiz hin und her. Die Computerstimme ist gegen die Teilchenbeschleunigung und betont die Gefahr des alles verschlingenden schwarzen Loches, die Kinderstimme beschwichtigt.

Am Schluss der Performance werden wir auch noch quasi politisch aktiv. Wir sind eine Landsgemeinde und sollen bestimmen, ob die Teilchenbeschleunigung-Experimente in Genf weitergeführt werden sollen. Wer dafür ist, platziert sich Richtung Genf, wer dagegen ist in der Region St. Gallen. Wir schlurfen mit unseren Schweizerfinken über die Schweiz – das Resultat ist klar: die Experimente gehen weiter – die Performance ist beendet. Zeit zum Rätseln bleibt kaum.

Wir schlendern mobil durchs Verkehrshaus hinaus in die saukalte Nacht. Neben einem riesigen türkisen U-Boot steht Monika Klingler in einem eleganten, schwarzen, ärmellosen Kleid. Gerahmt von einem kargen Bäumlein, einigen Häusershilouetten im Hintergrund und einem pechschwarzen Himmel – ein Bild, einem Bild gleich. Noch habe ich Hühnerhaut, aber ein älterer Herr meint, «wir müssen einfach diese schöne Frau ansehen, dann wird uns schon warm» – das stimmt. Sie bewegt sanft ihre Hände, überkreuzt geschmeidig die Arme, wippt auf den Zehenspitzen – eine bewegte Skulptur. Das Gras raschelt, so tönt es, wenn man das Gras wachsen hört, sie reibt ihre Hände aneinander, es ist so still, dass man das leicht zischelnde Geräusch wahrnimmt. Diese Performance ist, im Gegensatz zur vorher beschriebenen äusserst körperlich, sinnlich, berührend. Ich könnte dieser Frau noch stundenlang zusehen...

Doch schon werden wir von Judith Huber weitergelotst hinaus zur Mondlandung, zum Mausoleum der beiden Astronauten Juri Alexejowitsch Gagarin und John Glenn. Einige von uns schauen während dem Gehen nochmals zurück, wo die Skulpturen-Frau immer noch leise Bewegungen in den Raum zeichnet.

Als ich auf dem Mond ankomme, sind schon alle Plätze besetzt, also setze ich mich zuvorderst am Boden nieder. Links von mir steht ein Monitor auf einer Säule, ich höre raschelndes Laub, gehe auf einen Spaziergang durch den Wald. Unmittelbar vor mir stehen Valerian Maly und Klara Schilliger, sie sind angereist mit zwei Koffern, er riecht nach Wald und Bratwurst (das kann ich sagen, weil ich so nahe vorne gesessen bin). Sie beginnen sich auszuziehen (da weiss ich einen Moment nicht recht, wo ich hinschauen soll, wegen der Nähe versteht sich) und hüllen sich in güldene Glöcklein-Kleider. Sind sie Kometenschweife? Bimelbimbim. Etwas überladen wirkt die Montur, etwas dekadent vielleicht, nach Performance-High-Society sieht das aus. Sie legen sich zu Juri und John ins Mausoleum und beginnen sich Wörter zuzuspielen: Laub –Schlingel – versuchen – Tomate – Bein – Katze – Philosophie usw. usw. das verstehe ich, ehrlich gesagt, nicht, Freud hätte aber sicher seine Freude dran gehabt. Zuerst verharren alle auf den Zuschauerplätzen in ihrer Position, nach etwa 15 Minuten stehen einige auf und starren in die Schaukästen hinein, wo die beiden Glöcklein-Kometen liegen. Ob es darin wohl genügend Luft hat für 1 h 30 min? So lange wollen die nämlich darin ausharren, so lange, wie eine Erdumrundung dauert. Die Frau trägt einen Rock, man sieht jedes Härchen an ihrem Bein, eine kleine Schürfung unter dem Knie – befremdend, einen Menschen in dieser Nähe durch einen Schaukasten begutachten zu können (Schaulust?).

Stimmen erschallen von der grossen Flugzeughalle im Erdgeschoss. Die Stimmen gehören Bruno Amstad, Andreas Stahel und Franziska Baumann. Einige verlassen, angezogen vom Stimmengewucher, die beiden liegenden Kometen. Abhebende Flugzeuge, dampfende Lokomotiven, knurrende Autos, pulsierendes Städtegemurmel, sprudelnde Dampfschiffe, Obertöne, Rauschen, Hupen, Schreien, Stöhnen, Brachial, Archaisch, Geheul, Intensitäten, Vorsprachlich, Irrational, Ekstatisch, Sphärisch. Die drei ziehen in den Bann der stimmlichen Möglichkeiten. Mehr kann ich dazu nicht schreiben. Es war ziemlich mitreissend und erschreckend zugleich.

Währenddessen sind die beiden Glöckchenübersäten immer noch Wörter hin-und-her am Assoziieren: Scheisse – Schlitz – Wald – Feuer – Saum – Fuss – Nasenflügel... alles in Ordnung, sie scheinen noch genügend Sauerstoff zu haben.

Auch ich atme ruhig ein und aus und mache mich langsam auf den Heimweg, vorbei an den Kometen, hinter mir höre ich einen älteren Herrn zu seinem Kollegen sagen «die sind irgendwie nicht von dieser Welt, also ich höre lieber Orgelmusik».