«Machen Sie, was Sie wollen, aber versprechen Sie mir, dass es in d-Moll aufhört» – Ars Vitalis im Kleintheater

Man mag sich wundern, dass Pirelli in letzter Zeit nur noch die Bestnote zu vergeben scheint. Was aber kann er dafür, wenn so viel Grossartiges geboten wird? Doch wenn er dazu noch etwas völlig Neues, ihm bislang Unbekanntes entdecken darf wie Ars Vitalis, wünschte er sich, die Skala ginge viel weiter als bis 6. Ars Vitalis spielen heute noch einmal im Kleintheater – könnte man nicht endlich den Supersuperlativ etablieren? Das Besteste? Das Grösstestartigste?

Wer die seit dreissig Jahren bestehende Dreimanncombo kennt, dem oder der sei gesagt: Auch das aktuelle Programm, «Fahrenheiten», lohnt den Besuch absolut. Für selige IgnorantInnen, wie ich bis gestern einer war, hier der Versuch einer Beschreibung. Vorweg: Er wird, ja muss missraten.

Ars Vitalis, bestehend aus Peter Wilmanns, Klaus Huber und Buddy Sacher, haben in den drei Jahrzehnten ihres Bestehens eine völlig eigenständige Kunstform entwickelt, «Muzik als Theater». Text, Musik, Geräusch, Klang und Schauspiel stehen dabei gleichberechtigt nebeneinander und verbinden sich zu einem grösseren Ganzen, das die Möglichkeiten jeder einzelnen der Kunstformen potenziert. Blick auf die mit Tüchern in Schneemassivform verhängte Bühne, eigenartige Klänge und Geräusche aus dem Off – nett gesampelt, denkt man sich, wird aber im Verlauf des Abends eines Besseren belehrt: Die Geräusche werden mit einer Vielzahl oft skurriler, manchmal unerwarteter Gerätschaften und Vorrichtungen erzeugt, sie werden uns den ganzen Abend begleiten. Ein Mikrofon wird mit Tesafilm bearbeitet, der Plastiktrichter auf dem Klarinettenmundstück wird zur Megafonsimulation, und noch nie hat man einen derart vielseitigen Einsatz einer PET-Flasche gesehen: Nun kommen Stimmen hinzu, dreistimmig erschallt Gneists «Es tagt, der Sonne Morgenstrahl» – um gleich wieder abzubrechen und einem zärtlichen Tanz mit einem Teddybären Platz zu machen. Eine Dobro-Ukulele (wer hätte gedacht, dass es das gibt!) spielt eine japanisch anmutende Melodie, die Bassklarinette, die eben noch als Gehhilfe gedient hat, tritt dazu, das japanische Thema wird zum dekonstruierten, doch satten Swing, absurde Reime («Feuchtes Klima – Hiroshima») komplettieren das Liedlein. Zwischen den Liedern – wenn man sie denn so nennen kann, das Wort, das beschreibt, was da auf der Bühne passiert, muss erst noch gefunden werden – immer wieder Schauspieleinschübe, die drei Herren haben durchaus auch grosse thespische Qualitäten. Dann beginnt sanft, quasi von hinten, «A Night in Tunisia», wird immer präsenter, lauter, klarer, bis klassischer Jazz augenzwinkernd darauf verweist, dass Wilmanns, Sacher und Huber auch mit allen Wassern gewaschene Musiker sind. Nun beginnt Huber die endlose Geschichte eines Kairosmoments zu erzählen, und zwar ereilte ihn dieser, als er in das Türchen seines Kohleofens brüllte, während Wilmanns die beste Mikrofonbearbeitung vornimmt, die mir je begegnete, Sacher Anlagetipps verliest und aus dem Transistorradio immer wieder Bruchstücke von Hazy Osterwalds «Konjunktur-Cha-Cha-Cha» plärren. Die Geschichte will nicht aufhören – doch, zack!, geht das Saallicht an und man wird unsanft in die Pause entlassen, mit Augen, so gross wie Untertassen, und Ohren, die sich anfühlen, als hätten sie gerade wundertollsten Sex gehabt. Oder so. Nach der Pause ist vor der Pause, freundlicherweise greifen die Herren ihre Geschichte mit einer Wiederholung der letzten Minute wieder auf, und der frohe Reigen geht munter weiter, auf schwer zu fassende Weise sich bis zum Schluss immer weiter steigernd. Fröhlich werden Musikstile gemsicht, es wird auseinandergenommen und neu zusammengesetzt, angetönt, dann wieder ausgespielt – und natürlich hörts in d-Moll auf. Wie ich schon sagte: Ich habe solches noch nie gesehen. Und es ärgerte mich zutiefst, als ich erfuhr, dass Ars Vitalis seit 1992 in Luzern auftreten – so viel habe ich verpasst! Damit es dir nicht auch so geht, geliebte Leserschaft: Hingehen! Heute ist die letzte Möglichkeit, das aktuelle Programm in Luzern zu sehen, und es hat noch einige Plätze. Nicht verpassen!