Literatur im Höhen-Nebel

Dieses Wochenende fanden die dritten Rigi-Literaturtage statt. Ein vom schlechten Wetter ungetrübter Augenschein des Samstagabends – mit Lukas Hartmann und den Gebirgspoeten.

«... rings die Herrlichkeit...» war das Motto der diesjährigen Rigi-Literaturtage, doch wer gegen sechs Uhr die «Königin der Berge» – so die pathetische Bezeichnung im Festivalprogramm – per Luftseilbahn erklommen hatte, sah ringsum vor allem den Nebel. Nun erfreut sich auch Nebel grosser literarischer Beliebtheit, etwa bei Hesse («Seltsam, im Nebel zu wandern!») oder bei Burger («sich den Nebel nehmen»), und so liess auch der Präsident des Innerschweizer Schriftstellerverbands (ISSV) Andreas Iten sich vom schlechten Wetter nicht betrüben: «Wir haben Wetterglück. Denn wer geht schon bei Sonnenschein in eine Lesung?» Wohl wahr – nach dieser Logik hätte man aber auch fragen können: Wer geht schon für eine Lesung auf einen Berg? Offenbar eine ganze Menge Leute. Tatsächlich war der Saal des Hotels Rigi Kaltbad voll, als Iten vollmundig den Star des Abends, Lukas Hartmann, und seine hochkarätige musikalische Begleitung, John Wolf Brennan und Hanspeter Wigger, ankündigte.

Keine Bundesrätin Die Konstellation aus international bekanntem Schriftsteller und – laut rororo Jazzlexikon – einem der «kreativsten Musiker Europas» verdankte sich keiner geringeren als Simonetta Sommaruga. Die Frau von Lukas Hartmann hat mit John Wolf Brennan nicht nur die Matura, sondern auch das Konservatorium absolviert. Wäre nicht die «verdammte Parteipolitik» (Iten) dazwischengekommen, hätten sich die Literaturtage gar mit dem Besuch der Bundesrätin schmücken können. Doch Sommaruga verpflichtete einen Parteianlass und konnte der von ihr angeregten Zusammenarbeit nicht beiwohnen. Die beiden Musiker betraten den Saal von hinten und spielten im Gehen auf, Brennan am Melodica, dieser sonderbaren Mischung aus Klavier und Flöte, Wigger am Büchel. Wehmütige Melodien verwebten sie mit traditionell-schweizerischen Klängen, die, vorne angekommen, sich in verträumten Jazz mit Klavier (Brennan) und Trompete (Wigger) verwandelten. Im Verlaufe des Abends sollte Hanspeter Wigger sein Instrumente noch einmal wechseln und den grossen Bruder des Büchel, das Alphorn spielen, während Brennan sein Piano auch als Perkussionsinstrument nutzte und mit den Händen buchstäblich «in die Saiten» griff.

Der Aufklärer Die eingängigen und doch nicht aufdringlichen Klänge passten zu einer Dichterlesung, in der weniger der grosse Gestus als die zurückhaltende Klugheit zelebriert wurde. Hartmann war es wichtig, seinen neuesten historischen Roman zu kontextualisieren: «Ich habe mich schon immer für das 18. Jahrhundert interessiert.» Es ist eine Zeit des grossen Umbruchs, eine Zeit der Aufklärung, der Revolution – und der Räuber. Aber nicht nur derjenigen Schillers («Die Räuber», «Der Verbrecher aus verlorener Ehre»), sondern auch der realen: Einer davon ist der Räuberhauptmann Hannikel, der zwischen 1770 und 1786 den süddeutschen Raum unsicher machte. Um ihn dreht sich «Räuberleben», das dieses Jahr erschien. Wer nun glaubte, Hartmann ginge es um olle Räuberpistolen, der kennt ihn zu wenig. Denn Räuber sind nicht nur die Mitglieder von Hannikels Zigeunerbande, sondern räuberisch benimmt sich auch der württembergische Monarch Karl Eugen, dessen Geschichte ebenso Teil des Romans ist wie die Leben von Hannikels Sohn Dieterle und von Schreiber Grau, der dabei hilft, den Räuber zu fassen. Hartmann zeichnet ein Sittengemälde, in dem die grossen Fische die kleinen Fressen und in dem Gerechtigkeit zu Zeiten des Absolutismus ein fragwürdiger Begriff ist. Entstanden ist ein aufklärerisches Buch in jeder Bedeutung des Wortes.

Die Gebirgs-Poeten Eine besondere Art der Aufklärung wiederum vermittelten die Dichter, welche den zweiten Teil des Abends bestritten. Die Gebirgspoeten haben es sich auf ihre kleinkarierte Tischdecke geschrieben, mit dem grellen Licht der Satire in die dunkelsten Ecken der Bergler- und Hinterwäldlermentalität vorzudringen. Rolf Hermann aus dem Wallis, Matto Kämpf aus dem Berner Oberland und Achim Parterre aus dem Oberemmental sind keine Unbekannten in der Schweizer Spoken-Word-Szene und so ist ihre gemeinsame Produktion geradezu ein Gipfeltreffen des kruden Humors, der in drei verschiedenen Dialekten zelebriert wird. Eineinhalb Stunden lasen und sangen sie ihre Texte, zuweilen gemeinsam, oftmals abwechselnd, frei nach dem Motto: «Heimat ist dort, wo man sich aufhängt» (Kämpf). Bereits zu Beginn baten sie das Publikum, näher an ihren «Stammtisch» heranzurücken, damit man ihre Ausführungen auch ohne Mikrophon verstehen könne. Besonders distinguiert ging es hier nicht zu, und so wechselte sich manch bitterböses Gedicht («Kiffen gibt Hunger, Kotzen gibt Durst, der Bund gibt Geld») ab mit eher abstrusen Episoden – etwa über die Walliser Grossmuter, die, enttäuscht über ihre Nachkommen, Sohn und Enkelkinder an ihrem Geburtstag zu blutigem Brei schlägt. Schliesslich überwog jedoch die schwarze Gesellschaftskritik, und die sichtlich erheiterten Zuschauer wurden mit einem «Subventionen-Gospel» in die Nacht entlassen.

«Klein, fein und nachhaltig»? Der Nebel hatte sich mittlerweile, es ging bereits gegen 23 Uhr, gelichtet auf der Rigi und die nächtliche Seilbahnfahrt hielt doch noch ein Natur-Spektakel bereit, welches das Literatur-Spektakel komplettierte. Ob der Veranstaltungsort der richtige ist, muss trotz diesem Mondlicht-Blick fraglich bleiben. Ist es sinnvoll, ein Literatur-Festival zu so später Stunde noch hoch im Berg abzuhalten, wenn der Zugang – ein grosses Pech dieses Jahr – durch Umbauarbeiten an der Zahnradbahn zusätzlich erschwert wird? Wer über kein eigenes Auto verfügt, wäre nach den Gebirgspoeten notgedrungen in Weggis gestrandet – der Autor musste das am eigenen Leib erfahren. «Klein, fein und nachhaltig» seien die Literaturtage, lobt man sich im Programmheft gleich selber. Zumindest der Samstagabend – immerhin der grösste Anlass des Festivals – zeugte organisatorisch leider nur wenig von Nachhaltigkeit. Höhenkamm-Literatur oder Bergler-Satire müssen nicht zwingend in nebligen Höhen veranstaltet werden; Literatur muss sich nicht an exquisite Orte zurückziehen, sondern unter die Leute kommen. Dass dies auf der Rigi nur bedingt geschehen kann, tat glücklicherweise der Qualität des Programms selber keinen Abbruch.