Im Namen der Leere

Kunstmuseum Luzern, 29.02.2020: Nach abgesagter Vernissage, privater Preview und Führung im kleinen Kreis ist die Ausstellung «Marion Baruch. Retrospektive – innenausseninnen» wieder öffentlich zugänglich. Ein gelungener Blick zurück nach vorn.

Welche Herausforderung muss es für die Kurator*innen Fanni Fetzer und Noah Stolz gewesen sein, in einer Retrospektive ein Leben zu vereinen, das von Brüchen und Aufbrüchen geprägt ist. Und wenn die einundneunzigjährige Künstlerin nicht zurückblicken will, sondern stets nach vorne. Mit dem kindlichen Geist des Neubeginnens.

Marion Baruch, 1929 in Rumänien geboren, überlebte als Jüdin die Shoa, lebte in Jerusalem, Rom und Paris. Heute wohnt sie mit ihrer Familie in der Nähe von Mailand. Ein Leben, das sich in einer Vielfalt von Identitäten, Sprachen und Kunstformen ausdrückt.

Differenz und Wiederholung

Bereits vor dem Betreten des Kunstmuseums Luzern begegnet man ihrer Kunst. Denn auch der Ausstellungstitel «innenausseninnen» stammt von ihr und ist konkrete Poesie und Konzept in einem. In seiner Simplizität entfaltet er eine Komplexität, wie sie ihren Werken eigen ist. Ein Verweis darauf, wie wichtig ihr der performative Akt der Namensgebung ist, der nicht nur benennt, sondern auch erschafft.

Das Aussen ist Innen, denn es gibt kein Aussen, sondern bloss eine Immanenzebene, die wie eine glatte Oberfläche gefaltet werden kann. Die Unterscheidung von Innen und Aussen ereignet sich in einem unmarkierten Raum.

Spuren von Fluchtlinien

Im grossen Raum des Kunstmuseums befindet sich die Zeichnung «Abbraccio lo spazio lo attraverso, 2020». Riesige Tentakel, die tastend den haptischen Raum erfühlen. Linien fernöstlicher Kalligraphie, die mit meditativer Entschiedenheit gezogen wurden. Oder Schnitte wie von Lucio Fontana, durch die das Bild räumlich und bei Baruch der Raum bildlich wird.

Abbraccio lo spazio lo attraverso, 2020 von Marion Baruch
«Abbraccio lo spazio lo attraverso, 2020» von Marion Baruch

Verbindungen und Trennungen, Schnitte und Knoten, Wege und Freiheit – reine Differenzen. Spuren von Spuren in der weiten Leere des Raumes. Eine Leere, die nicht Nichts ist, sondern eine Fülle unendlicher Intensitäten und potentieller Beziehungen, die atmen lässt. Dies erinnert an die chinesische Landschaftsmalerei, was womöglich mit ein Grund war, weshalb die Galerie Urs Meile früh an Baruchs Werk interessiert war.

Politik des Eigennamens

In den 90er-Jahren nahm Baruch an vielen Kunstmessen teil, was zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem Kunstmarkt und der Konsumkultur führte. Als ihr damaliger Galerist sagte, ihr Name müsse auf ihren Werken stehen, schrieb sie «Name» hin.

Die Wiederholung der abstrakten Form durch die Nennung des Platzhalters legt die verborgenen Funktionen des Eigennamens frei. Aber auch seine Widersprüche. Mit dem Eigennamen wird ein Individuum getauft, aber auch Individualität geschaffen. Er gibt ihm einen wohldefinierten Platz in der Struktur der Sprache, aber das Individuum ist stets im Werden. Die Signatur verspricht Authentizität, ist einzigartig und unersetzbar, muss aber auch wiederholbar und nachahmbar sein.

Museum Fashion (3), 1993 von Name Diffusion
«Museum Fashion (3), 1993» von Name Diffusion

Auf dem (Kunst-)Markt wird aus dem Eigennamen ein Logo. Es geht nicht mehr um den Eigenwert, sondern um den Tauschwert. Der Name wird zur Währung: «Ich besitze einen XYZ.» Er repräsentiert Geld, Macht und Status. Gegen diese Enteignung setzte Baruch als Strategie der Wiederaneignung die affirmative Wiederholung ein. Und gründete das Label und Kollektiv Name Diffusion mitsamt Logo und Handelsregistereintrag. Im Kunstmuseum wird nun ein Store von Baruchs Label inklusive Stoffmuster, Give-aways und Arbeitsuniformen gezeigt.

Diffusion ist Differenz und Fusion zugleich. Ausbreitung und gegenseitige Durchdringung mehrerer Gase. Glättung und Auflösung unter diffusem Licht. Und die Verschleierung von Strukturen eines Klartextes bei der Verschlüsselung. Schliesslich ist der Name Programm: Vermarktung.

Vernähen von Leerstellen

Das Material ihrer aktuellsten Werke – die sie wieder unter ihrem Eigennamen ausstellt – sind Stoffreste der Mailänder Haute-Couture. Fundstücke, die sie an Werke von Paul Klee erinnerten, wie «Etwas steht für etwas anderes, 2018». Andere Stücke erinnern an Cut-outs von Matisse, wie etwa «Estensione (ritmo e linguaggio), 2018». Und «Viaggo Organizzato, 2017» wirkt gar wie digitale Glitch art.

Etwas steht für etwas anderes, 2018 von Marion Baruch
«Etwas steht für etwas anderes, 2018» von Marion Baruch

In einer kollaborativen Arbeit mit Noah Stolz ertastet sie das Material, wählt aus und durch Falten, Festmachen und Fallenlassen entstehen Werke, die mal wie zweidimensionale Bilder an der Wand, mal wie Skulpturen im Raum oder wie Mobiles in der Luft hängen. Ein wichtiger Prozess ist erneut die Namensgebung, die situativ und assoziativ vonstatten geht.

Versteht man die Mode als Zeichensystem, so weist der materielle Ausschuss einen symbolischen Überschuss auf. Der «Rest» ist das Material vor und nach der Formgebung, Funktionszuweisung und Repräsentation. Mit Baruchs abstraktem Materialismus vollzieht sich eine Umkehrung von Anwesenheit und Abwesenheit. Abwesend sind die Kleider, Körper und Logos, anwesend allein durch die Leerstellen. Die Materialität des marginalen «Restes» erinnert dagegen an die ansonsten abwesende Produktionskette: die Arbeiter*innen, Maschinen und Ressourcen. Die Leere wird erfüllt durch die Erinnerung und Imagination.

Wiederkehr des Gleichen

Der Kreis schliesst sich mit dem letzten Raum, in dem Baruchs früheste Werke dokumentiert werden. Mit «Abito-Contenitore, ca. 1969» kreierte sie «Kleidungsbehälter», die in ihrer Form einfach, aber in ihrer Einfachheit aussergewöhnlich sind.

Die für gewöhnlich vorgefertigten und zum Teil raffinierten Formen zur Sichtbarmachung erfordern normierte Körper, deren Wunsch nach An- und Wiedererkennung stets auf einen Mangel verweist. Das Unsichtbar-Werden von Körper, Identität und Namen ermöglicht hingegen ein vielgestaltiges Spiel der Formen und Kommunikation. Ein Spiel, in der das Begehren nicht durch feste Formen, Regeln und Markierungen begrenzt wird.

Eine Wiederkehr des Gleichen? Ja! Denn wo der Würfelwurf nie den Zufall tilgt, entfalten sich mit jeder Wiederholung neue Differenzen. Davon zeugt auch die gelungene Retrospektive, die neugierig macht auf das Kommende von Marion Baruch.

Marion Baruch. Retrospektive – innenausseninnen
Bis SO 21. Juni
Kunstmuseum Luzern