Ich ein Anderer? Ich eine Andere?

Die Frage nach der Identität erwies sich als währschafte Herausforderung. Je mehr wir uns mit der Frage beschäftigten, desto mehr entzog sich uns die Sache selbst! Gefangen im dialektischen Spiel von Enthüllung und Verhüllung erinnerte die ganze Hilflosigkeit an die berühmte Aussage von Augustinus «Wenn mich niemand fragt, was Zeit ist, weiss ich, was Zeit ist. Fragt mich jemand, weiss ich es nicht.»

(Von Roland Neyerlin)

Hilflosigkeiten sind beim Philosophieren häufig auszuhalten – wir sind Wahrheitssuchende nicht Wahrheitsbesitzende! Mein Vater beendete meine notorische Fragerei meist apodiktisch mit dem Spruch «Mir wei nit grüble!» Ich gestehe, in Fragen zu leben ist nicht ganz einfach, manchmal bedrohlich und nicht selten sogar lebensbedrohlich. Wir blieben nicht gänzlich ohne Antworten – wie fast immer beim gemeinsamen Nachdenken. Es ist ja nicht so, dass wir bei der Suche nach Antworten nach immer den gleichen Fragen keine Antworten finden würden. Wir gelangen über die ernsthafte Auseinandersetzung zu (Teil-)Einsichten. Wir haben uns zu bescheiden – das ist nicht nichts! Identität als Übereinstimmung einer Sache mit sich selbst gibt es nur in der Mathematik. Dennoch gehen viele Theorien der Ich-Identität genau von diesem Bild aus. Meist sind diese Identitätsvorstellung sehr rigide: Ich bin etwas – alles andere gehört nicht zu mir. Wer so denkt, muss alles, was ihn auch noch ausmacht, entweder ablehnen, ausgrenzen oder verdrängen. Vielleicht ist Identität nur formal zu bestimmen als eine Art Klammer, die mich in meiner auch disparaten Vielfalt zusammenhält. Ein Ich, das mich immer begleitet. Etwa wenn ich nach einer durchzechten Nacht in den Spiegel schaue und dem Fremden sage: «Ich weiss zwar nicht wer du bist, aber ich rasiere dich trotzdem!» Doch was macht dieses Ich aus? Sicher nicht nur eines. Es ist plural verfasst, besteht aus vielen Facetten: Ich bin immer auch ein Anderer, eine Andere. Mit anderen Worten, unsere Identität steht nie ganz fest, sie entsteht immer wieder neu. Wir müssten also lernen, gut zu leben mit einer Identiät, die sich immer wieder beunruhigen resp. destabilisieren lässt. Dies ist eine der grossen Herausforderungen eine dauerbewegten, globalisierten, multikulturellen Welt. Wer sind wir? Bichsel würde sagen: «Wir sind unsere Geschichten.» Wir müssen erzählen, Geschichten erzählen. Das Kultur-Forum ist in diesen Tagen ein Erzählraum! Am Nachmittag kam eine 5. Klässlerin zu mir. Sie wollte über den Sinn des Lebens philosophieren. Sie fand währschafte Antworten – nicht die Antwort!