Hinter der Kulissen der Spassgesellschaft

Das Luzerner Theater zeigt Giuseppe Verdis «La Traviata» in der Inszenierung von Lorenzo Fioroni. Ohne Plüsch aber nicht ohne Opernpathos. Die Regie bemüht sich um Verdeutlichung und verfehlt da und dort ihr Ziel. Konservative Opernbesucher werden vom Rückenmark her negativ reagieren. Die musikalische Leistung ist ansprechend.

Es gibt gute Ideen, schlechte Ideen, zündende Ideen, abwegige Ideen, verschwurbelte Ideen, einleuchtende Ideen, Ideen, die in einem bestimmtes Kontext Sinn machen und solche, die darin bloss aufgesetzt wirken. Die Inszenierung der «Traviata» am Luzerner Theater durch Lorenzo Fioroni ist reich an szenischen, bildnerischen, deuterischen und episodischen, tragenden und versagenden Ideen; und das ist sicher etwas vom Besten, was sich über eine Inszenierung sagen lässt. So gelingt denn in dieser «Traviata» vieles, und einiges läuft ins Leere. Das Bühnenbild, das Werner Hutterli ausgeführt hat, gibt schon die Grundidee vor: Es gibt eine Welt vor und eine hinter den Kulissen, eine offizielle Gesellschaftswelt der Orgien und des smalltalks und eine private Rückzugswelt der enttäuschten Liebe, der Krankheit, der Einsamkeit und schliesslich des Todes. So weit so gut. Das ist ja in der Musik ganz genau so schon angelegt. Darüber hinaus aber sind nun auch die Intérieurs, in denen die Spassgesellschaft ihre Feste und sich selber feiert, noch gar nicht fertiggestellt, sondern auf Sperrholzwänden nur eben als Plan eingezeichnet. Es ist eine provisorische Welt, in der sich die mondäne Gesellschaft halbwegs eingerichtet hat, unfertig, imaginiert, niemals wohl fertigzustellen, weil im Festtrubel keiner merkt, dass man durch eine schäbige Umgebung taumelt. Unbehaust, so sagt uns das Bühnenbild, ist man in der Gesellschaft, nicht hinten, im Off. Wir sind nur Gäste auf dieser Erde. Seit Luzern diese hübsche kleine Drehbühne hat, reisen Regisseure aus ganz Europa an und drehen bis zum Abwinken, und so geschieht es denn auch hier. Die Drehbühne erlaubt den beständigen Wechsel zwischen vorne und hinten, Party und Privatwelt. Und die Partywelt ist schrill. Den Frauen wurden ordinäre Glitzerkostüme und gigantische künstliche Titten und Ärsche verpasst (Kostüme: Sabine Blickenstorfer), mit denen sie auch ausgiebig wackeln und renommieren. Das könnte auch aus dem Belehrungsstück einer feministischen Laientheatergruppe stammen. Mit anderen Worten: Die mondäne Welt ist stark karikaturistisch überzeichnet - womit das Dargestellte natürlich auf Kosten des Effektes, dass auch der Doofste merkt, was der Regisseur meint, krass an Authentizität und damit Interesse einbüsst. Überhaupt gibt es durch das gesamte Stück hindurch immer mal wieder eine klamaukige Einlage, deren Sinn oder auch nur Humormehrwert sich nicht so recht erschliessen mag. Im ersten Bild kommt sich der Regisseur indessen mit seinem zeigefingerischen Deutungsansatz noch nicht allzusehr selber in die Quere. Zu zündend ist hier Verdis Musik, zu rauschend ziehen Ball und Liebesszene vorüber, zu schmissig spielt das Orchester auf. Zäh wird's im zweiten Bild. Nebel wabert durch das Liebesnest der Traviata und ihres Alfredo, und so fade und schläfrig wie die Trockeneisschwaden schleppen sich Szene und Musik dahin. Da ist kein Spannungsbogen fühlbar oder hörbar, keine Dramatik, keine Zielgerichtetheit zum Beispiel hin auf das hier völlig verschenkte «Amami Alfredo». In langsamsten Tempi und zusammenhanglos reiht sich Arie an Duett, dehnt sich Rezitativ nach Rezitativ. Dröge ist das, und die Szene fängt die Langeweile nicht auf, sondern verstärkt sie noch. Hier rächt sich nun, dass die Ideen zwar plakativ, die Operngesten dafür konventionell sind. Die Darsteller spielen schlecht, schleichen umeinander herum, produzieren hohles Stummfilmpathos. Da werden kniend Hände gerungen, da wird blöde mit dem Drohfinger gewedelt, da werden Blumensträusschen und Herbstlaub in die Luft geworden und natürlich Arien von der Rampe ins Publikum geschmettert. Unverzeihlich sind die antiquierten Reisekoffer, die doch tatsächlich nach den anderen tausend Bühnen dieser Welt auch noch über die Luzernerische getragen werden, und auch das beileibe nicht zum ersten mal. Die da abgeschabte Handkoffer herumschleppen, sind Alfredos Vater und dessen Tochter, eine von der Regie zwecks Ueberdeutlichmachung hinzuerfundene stumme Figur, die gleich wie andere solcher Komparsen wenig zur Belebung beiträgt. Dafür ist Vater Germont eine Vollkarikatur, ein langweiliger Penner, dem schlicht niemand den Respekt entgegenbringen würde, mit dem er immerhin laut Stück seine unerwünschte Beinahe-Schwiegertochter zum Verzicht auf ihre Liebe und Lebenschance bringt. Er ist ein heuchlerischer Betbruder, klar, das haben wir schon begriffen, aber das moralisierende Gewäsch katholischer Kreise interessiert doch schlicht niemanden mehr, so dass hier also nicht nur ein ranziger Konflikt abgehandelt, sondern dadurch, dass die Pfaffenwelt des Vaters und die mondäne Gesellschaft nun plötzlich nicht mehr zur Deckung kommen, das Stück und dessen Anklage grob missgedeutet werden. Der Vater, der ohne seine adelig-arrogante Autorität gar keinen Sinn machen kann, ist hier nicht einmal in der Lage, ein Jagdgewehr richtig anzufassen. Das ist das Problem der Inszenierung: Keine der dargestellten Welten ist real oder doch als reale denkbar und ergo glaubwürdig. Die Spassgesellschaft ist nicht mondän und erotisch, sondern eine plumpe, vulgäre Karikatur, die Frömmler gibt es in dieser Art nur noch auf italienischen, US-amerikanischen und russischen Opernbühnen, die Tuberkulose ist verschwunden. Dass die Traviata hier übrigens immer noch in ihrem Tittenkostüm steckt, behindert sie nicht nur offensichtlich im Spiel und führt dazu, dass der Zuschauer die ganze Szene nicht ernst nehmen kann, sondern es ist von der Idee der Inszenierung her schlicht falsch. Also geht man etwas ratlos und angeödet in die Pause. Und anschliessend zündet es plötzlich wieder. Das dritte Bild zeigt - zu anderer Musik und anderer Handlung natürlich – im Grunde genau die gleiche Party wie das erste Bild: eine Orgie, die sich offenbar allnächtlich ins Endlose wiederholt, und der die Violetta nun in T-shirt und Jeans und mit Oberweite in menschlichem Mass nur mehr vom Bühnenrand her zuschaut. Wahrscheinlich ist es sowieso nur ein Traum, ihre wüste Vision von der Gesellschaftswelt, die sie sich aus der Erinnerung an unzählige Abende zusammensetzt, die fade und repetitiv ist, aber eben auch Leben bedeutet, und der sie nun nicht mehr angehört. Hier ist wieder eine Idee, die passt und zündet, und plötzlich wird auch das Spiel, werden die Interaktionen und Emotionen glaubwürdig und spannend. Stimmigkeit und Geschlossenheit setzen sich zum Glück bis ins finale Sterbebild fort. Violetta (Svetlana Doneva) und Annina (Dana Marbach) gestalten eine überzeugende kleine Freundinnen-Welt inmitten der Allgegenwart des Todes. Auch stimmlich trumpft die Darstellerin der Titelrolle jetzt auf, mit Kraft, wo es nötig ist, aber vor allem auch mit schönen Pianissimi, in denen sowohl die Atemnot wie die Lebenslust der Kranken hörbar werden. James Gaffigan führt sein Orchester hier zu ruhigem und klangschönem Gelingen.

La Traviata, bis DO 16. Mai im Luzerner Theater.