Folter! Sex! Ausländer! Mord! (Lesen Sie diesen Text!)

Die Grenzgänger zeigen im Kleintheater ihr neues Stück: «Frollein Rache».

Ein schockierendes Verbrechen hat stattgefunden. Die schockierte Öffentlichkeit diskutiert das Böse, und auch die Moderatorin zeigt sich mit belegter Stimme persönlich schockiert. Das Verbrechen wird jetzt bewirtschaftet, was kein moralisches Problem ist, solange man sich dabei im Schockzustand zeigt. Doch während sich die Moderatorin noch für die verstörende Handlung entschuldigt, die sie nun leider gezwungen ist zu zeigen, bahnt sich im Hintergrund bereits das nächste schockierende Verbrechen an. Ein Rachemord. Denn Sache ist die: Ein Mann hat einen Buben ermordet. Und er hat ein Mädchen entführt, um dessen Mutter zu zwingen, den Mord am Buben zu gestehen. Die Mutter geht ins Gefängnis. Als sie rauskommt, will ihr inzwischen erwachsenes Mädchen nichts mehr von ihr wissen. Sie beschliesst, den Mann und Mörder von vier weiteren Buben umzubringen. Und ha, wir, das Publikum, sind ihre Komplizen. Wir befinden uns in «Frollein Rache», dem neuesten Metatheaterstreich der Grenzgänger, jener freien Truppe, die vor einem Jahr und ebenfalls im Kleintheater mit der 24-Stunden-Performance von «Nico’s Love» begeistert hat. Julian M. Grünthal und Shir Freibach haben das neue Stücke entwickelt, inspiriert von den Filmen des Südkoreaners Park Chan Wook («Sympathy For Mr. Vengeance», «Lady Vengeance»). Erzählt wird also durchaus der Fall dieses Rachemords. Aber genauso viel geht’s an diesem Abend um die Mechanismen seiner Erzählung, sprich: um die präzise Herstellung jener Publikumsemotionen, die es erst erlauben, den Fall in die Kreativwirtschaft einzuspeisen. «Frollein Rache», das sind also auch nützliche Informationen über chemische Vorgänge im Konsumentenhirn, über die Dramaturgie bei Aristoteles sowie über Erregungstechniken beim Schauspieler Philippe Graber oder beim Sänger James Brown. Eine behinderte Musikerin (oscarverdächtig: Zena Szellem) vertieft das Erlebte durch Pizzicati u.ä. Wer mittlerweile das eine oder andere Stück von Julian M. Grünthal und den Grenzgängern gesehen hat, weiss um diese Erzählweise der ständig verrutschenden Metaebenen. Entsprechend schnell legt das je nach Zählweise vier- bis neunköpfige Ensemble (inkl. authent. Ausländer) seine Karten denn auch offen hin, und mit wissendem Vergnügen hört man zu, wie bei der einen Schauspielerin ein naturalistisches Grauen erwacht, während die andere ihr Leid in einen magischen Musicalmoment fasst («Ohni Muetter, ohni Fründe / Ich bliibe elei!!»). Im Bühnenhintergrund gibt’s Geisterbahngelächter, im Vordergrund perversen Sex, und Streichelbewegungen auf dem iPhone rufen das Winseln gefolterter Kinder auf. Es gibt kein richtiges Gefühl im falschen. So weit, so Grenzgänger. Man hat das alles bei der Gruppe auch schon dichter gesehen, heftiger und ambivalenter erlebt; und was man in «Frollein Rache» auf die Länge dann halt auch zu spüren bekommt, ist die Abgebrühtheit des regelmässigen Theaterbesuchers. Doch gerade, als man sich darin so gemütlich es geht eingerichtet hat, gehen die Grenzgänger einen Schritt weiter. Es gilt. Ernst. Zurück auf Feld 1. Denn plötzlich sieht man sich aufgefordert, Haltung an- und einzunehmen zu dem, was da doch nur gespielt wird. Eine Position zu formulieren zum Rachemord, so läppisch der auf einer Theaterbühne auch aussehen muss. Eine schockierende Aufforderung, die die einen Premierenbesucher ins Grübeln brachte und die anderen ungerührt liess.

Weitere Aufführungen: FR 19. und SA 20. Oktober, 20 Uhr, Kleintheater Luzern