Eskalierende Energie und eine Stimme, die umhaut

Kleintheater, Mittwoch 12. Dezember 2012. Anna Maria Schulz alias «Annamateu» ist eine Wucht: Strotzend vor Individualität mit vibrierender Stimme, die kaum Luft zum Atmen lässt, gastiert sie auf ihrer Tour im Kleintheater Luzern. Mit «Screamshots – ein musikalisches Overhead-Projekt» kann sich das Publikum auf einen energetischen Gefühlsausbruch gefasst machen.

Von dieser Frau geht zweifelsohne eine magische Kraft aus, der man sich kaum entziehen kann. Ob sie nun ins Mikrophon haucht, stöhnt oder groovt – ihre Stimme ist unverwechselbar. Keine singt so laut wie sie, keine weiss das Publikum auf eine wirkungsvollere Art mitzureissen. Schon beim Betreten der Bühne wird dem Zuschauer klar, hier hat man es mit einer aussergewöhnlichen Persönlichkeit zu tun: Das schulterlange und krause Haar, zuerst noch züchtig zusammengebunden, löst sich zunehmend und geht der Musik entsprechend in einen wilden Tanz über. Mindestens nach den ersten zwei Songs weiss man, dass diese Frau mehr zu bieten hat, als eine aussagekräftige, spannungsgeladene Stimme. Ihre Musik wird von theatralischen Sketches begleitet, sodass sich Cello- und Gitarrenklänge mit schauspielerischem Talent meisterhaft verbinden. Mit grotesker Ironie greift «Annamateur» von der Gesellschaft festgelegte Konventionen auf und lässt das Publikum die oft einfach hingenommenen Verhaltenskodexe reflektieren. So mimt sie mit Überzeugung die strenge Primarlehrerin, wobei die Zuschauer als Schulklasse in die schauspielerische Vorführung miteinbezogen werden. Abweichendes Betragen, wie Lachen oder Husten des Publikums, wird nicht toleriert und lassen die Lehrerin endlose Moralpredigten über Konzentration, Disziplin und Gehorsam halten. Die Sätze «Man kann nicht immer Spass haben.» «Da muss man jetzt durch» oder «Was soll aus euch nur einmal werden?» lassen unweigerlich an die Volksschule denken, wo mit mahnendem Zeigefinger tugendhafte Eigenschaften näher gebracht werden sollen. Die Szene des schwierigen Schülers, der das Bild nicht nach tradierter Norm malt und sich phantastischen Übersteigerungen hingibt, geht in den Song «Kokain – Ritalin» über, wo das Wundermittel gepriesen und das kindliche Temperament in richtige Bahnen gelenkt werden soll. «Annamateur & Aussensaiter» singen und spielen ihre Liedtexte ganz nach der bewährten Meinung: «Normal ist, was rentiert». So soll die an Demenz erkrankte Inge lieber sterben, als der Gesellschaft mit ihrer Vergesslichkeit zur Last zu fallen. Und das Publikum wird anhand einer ausführlichen Skizze am Hellraumprojektor über die Vorteile einer Schönheitsoperation informiert. «Annamateur» beleuchtet bewusst Personen, die sich dem Mainstream widersetzen, von der Öffentlichkeit aber als Randständige klassifiziert werden. Ihre Stimme und Schauspielkunst schreit geradezu nach Ausbruch und mehr Mut zur Individualität. Was sie mit ihrem aktuellen Overhead-Projekt «Screamshots» leistet, ist bemerkenswert. Wer sie verpasst, lässt sich nicht nur eine grandiose Sängerin und Schauspielerin entgehen, sondern muss wohl auch auf einen Adrenalinkick verzichten.