Erinnern oder Vergessen?

Philosophische Praxis ist ein Ort, wo gehandelt oder präziser nachgedacht wird. Philosophie als Philosophieren ist Nachdenken über sich und die Welt in Form eines Gesprächs. Die Orte des Philosophierens können sehr verschieden sein – Sokrates verwickelte die Menschen in Gespräche in den Strassen Athens. Ich setze mich ins Schaufenster des Kultur-Forums Luzern, das für eine Woche in eine Philosophierstube verwandelt wird.

(Von Roland Neyerlin)

Ich will dem Philosophieren Öffentlichkeit geben. Das Denken ist nicht nur Privatsache, sondern auch eine öffentliche und damit im philosophischen Sinne eine politische Tätigkeit. Fenster sind Schnittstellen und genau da mag ich mich aufhalten. Mich hat es als Kind immer fasziniert, durch offene Türen und Fenster in eine Schuhmacherwerkstatt oder eine Schmiede zu schauen. Die Philosophie hat sich in hermetisch abgeschlossene Räume und Diskurse zurückgezogen. Das will ich nicht. Ich suche die Begegnung und das Gespräch – wie damals in meinen Jugendjahren in Laufen der Sattlermeister Segginger, der seine Rosshaarmatratzen auf der Strasse gemacht hat. Die Frage des Tages hiess «Erinnern oder Vergessen». Was wäre, wenn wir nichts vergessen könnten? Wie würden wir leben, wenn wir fortlaufend vergessen würden? Gibt es auch so etwas wie ein kollektives Gedächtnis? Wie zuverlässig ist die Erinnerung? Ist das Verdrängen vom Vergessen zu unterscheiden? Was geschieht mit dem Vergessenen? Solchen und ähnlichen Fragen gingen wir gemeinsam auf die Spur. Philosophieren im Sinne des ständigen Zerbröselns der eigenen, heimeligen Denkgewohnheiten ist eine Herausforderung im besten Sinne. Wir bewältigen sie besser, wenn wir zusammen nachdenken in einer Art fröhlicher Geselligkeit. Der Mittagstisch im Kultur-Forum trägt viel dazu bei, dass das Denken zu einer gemeinsamen Erfahrung wird. Neben dem runden Tisch mit Suppe und Wein und Brot erfreuen mich immer wieder die Begegnungen mit Einzelpersonen, die von der Strasse den Weg ins Schaufenster finden. Es sind sehr intensive Gespräche, geprägt von Denkanstrengungen und der Bereitschaft einander zu zuhören. Ich gehe zufrieden und inspiriert nach Hause. Philosophische Praxis ist Vollzug, Handlung, Tätigkeit – ein Übungsfeld zur Einübung der Kompetenz des Selbstdenkens.