«Der Himmel ist auch nur ein Mensch!» – «Honigknochen»-Trilogie von Jens Nielsen im Kleintheater

Zurzeit führt die Theatertruppe Trainingslager im Kleintheater die «Honigknochen»-Trilogie des Schweizer Dramatikers Jens Nielsen auf. Pirelli ging das erste der drei Stücke schauen – und ihm widerfuhren Glückseligkeit und grösste Euphorie.

Vorweg: Das war etwas vom Besten, Unterhaltsamsten, Lustigsten, Klügsten und Schrägsten, was ich je auf einer Bühne gesehen habe – «Endidyll» von Jens Nielsen, wunderbar dargeboten vom Trainingslager.

Der Dramatiker Jens Nielsen, selber als grosser Performer seiner Texte bekannt, erarbeitete die drei unter dem kryptischen Titel «Honigknochen» stehenden Stücke für und mit dem Trainingslager, einer 2006 gegründeten Formation, in Luzern werden sie nun konsekutiv im Kleintheater aufgeführt. Gestern Donnerstag das erste, «Endidyll». Aus dem Beschrieb auf der Website von Regisseurin Antje Thoms: «Vater, Mutter, Sohn und Tochter. Kreuzworträtseln, Haustiere füttern, Frühstücken, Ausflug machen. Eine intakte Familie. Doch die Mutter kann sich plötzlich nicht mehr daran erinnern, wann sie geheiratet hat. Der Sohn dreht seinen Kopf um 180 Grad und glaubt, er sei die Eule Fritz. Die Tochter übt sich im Speerweitwurf, um Gott nahe zu sein. Der Vater erfährt in einem Telefonat die Nachricht von seinem bevorstehenden Tod und ruft zur Familienkonferenz. Die Zeit springt wie eine kaputte Uhr. ‹Endidyll›, ein absurdes Theaterstück über die Abgründe eines intakten Familienlebens.» Doch das ist eigentlich egal. Nielsen nutzt den knappen Handlungsfaden lediglich als Gerüst für den wilden, frei flottierenden Text, der von unerhörtem Geistreichtum und galoppierender Fantasie zeugt. Das Bühnenbild ist spartanisch, vier Holzkisten stehen vor einem Vorhang, sie werden als Sitzmöbel, als Lager für die spärlichen Requisiten dienen, aber im Verlauf des Abends auch zum Sarg zusammengeschoben werden.

Die Lichtregie ist aufwendig und äusserst präzis. «Auftritt der Schauspieler. Sie stellen sich in keiner Reihe auf und schauen tief in sich.» Dies spricht die eine der Spielenden (Uta Köbernick, Tochter Klara) gleich zu Beginn in das Mikrofon auf dem Ständer, das den ganzen Abend eine zentrale Rolle spielen wird. Sie fordert ihre Mitspielenden auf, sich respektive ihre Rolle mit einem Satz vorzustellen, und wendet sich dann wieder an das Publikum – wird aber schnell von den anderen unterbrochen: «Dieses direkte Ansprechen, also ich weiss nicht …» Flugs wird abgestimmt, ausgenommen der Vater (Hansruedi Twerenbold) sind alle gegen die Ansprache. Also setzen sie sich mit dem Rücken zum Publikum und spielen kurze Zeit so weiter, merken aber schnell, dass es auf diese Weise auch nicht geht.

Nun denkt man sich als Zuschauer rasch, hach, der mit der Metaebene, den haben wir ja noch niiieee gesehen … – doch Nielsen gibt immer noch einen drauf. Die wunderbar ironische Nonsensifizierung des viel bemühten brechtschen V-Effekts wirkt nie aufgesetzt, nie oberlehrerhaft («Schaut mal, wie gut ich mich in der Theatergeschichte auskenne!»), sondern bereichert das Geschehen und steigert trotz aller redlicher Erklärungsversuche die Verwirrnus der Zuschauerschaft, die ob der wilden Zeitsprünge auf der Bühne schnell den Überblick verliert. Doch den Figuren geht es nicht anders, also wird ein gut Teil der Energie darauf verwendet, zu diskutieren, in welcher Zeitebene man sich grad befindet – und man wird sich nicht immer einig. Also spielt man halt manchmal nicht in der gleichen Zeit. So fragt Sohn äh Tochter äh Wesen der/die/das Steffi (Dominique Müller) am Mikrofon: «Sind wir beim Ausflug?», und der Chor antwortet: «Hatten wir schon!» – «Ja, dann bei Mutters langer Meinung?» – «Kommt noch!» Aus der Meta- wird eine Metametaebene, doch geht diese Spielerei immer auf und wirkt dem absurden Tenor des Stücks sehr förderlich. Wir erfahren, dass Gott – Achtung, sehr, sehr, sehr geheim! – eigentlich Emil heisst und hobbymässiger Holzfurnierfabrikant ist, werden aber vor weiteren Ausführungen verschont, weil Steffi plötzlich brüllt: «Huuäääh! Ich glaube, meine Pubertät hat angefangen!», und sich fortan ein Geschlecht wünscht («etwas mit Drüsen») und eine Frau, «die meine Eier ausbrütet»; während die Mutter (gross: Vivianne Mösli) findet: «Ich bin zweifellos geworden – glaub ich.» Nun vollzieht sich der angekündigte Tod des Vaters, was aber wiederum Tochter Karla nicht hinnehmen mag und sich deshalb nach langer, so komischer wie akrobatischer Aufwärmerei in den Himmel aufmacht und den Vater zurückholt – nur dass der inzwischen aus fernen Landen stammt: «Ich bin Paul, ich stamme aus Luxemburg. Ich kann kein Deutsch, dieser Satz ist übersetzt worden.» Ein Feuerwerk an absurdem Witz, dargeboten in einer sehr lakonischen Inszenierung mit wenig szenischer Bewegung, die der grossartigen Sprache in den Weg käme, von einem Ensemble, dessen überbordende Spielfreude sich sogleich auf das Publikum überträgt – kaum je hat man so laut und lang gelacht im Theater; ein Lachen aber, das immer den Willen birgt, einem im Hals stecken zu bleiben.

Heute Freitag wird «Tag der Dachse» aufgeführt, ich werde unbedingt wieder hingehen. Am Samstag folgt «Die Erbsenfrau». Zum Besuch wird dringendst geraten, nicht verpassen! PS: Ein Kränzchen dem Kleintheater: Bequem ist es geworden, mit vielfältig gestaltbarem Zuschauerraum, netter Bar und einer Leitung, die mit grossem Elan den Spagat übt zwischen peachweberscher Schenkelklopferei und fein ziselierten Produktionen – ein guter Ort.