Das Leben ist (k)ein Rösslispiel

Theater Stans, Samstag, 19. Januar 2013: In Stans spielen sie den Bühnenklassiker «Liliom» des ungarischen Autors Franz Molnár (1878–1952. Bild) – «Komödie, Märchen, Traumspiel, aufgespannt zwischen Himmel und Erde». Ein Mundart-Theater zwischen Realismus und Irrealismus über die Titelfigur, einen Frauenhelden und Halodri, der lieben will, aber gewalttätig wird und (sich) tötet. Mit Geschick inszeniert hat Stans-Debütant Dodó Deér.

(Bilder PD/Benjamin Hochreutener, Emanuel Wallimann)

Das Stück, 1909 in Budapest uraufgeführt, ist längst ein Klassiker der Bühnenliteratur. «Liliom» ist das (international) erfolgreichste Stück von Autor Franz Molnár, auch mehrfach verfilmt, daheim in Ungarn, in Österreich, in Hollywood und, von Fritz Lang, in Deutschland (1934). Ein realistischer Stoff zwischen Traum und wirklicher Welt und gar im Himmel spielend.

Liliom (Urban Riechsteiner) ist Ausrufer im Vorstadt-Prater, auf der Chilbi sorgt er, Frauenschwarm, für Stimmung beim Karussell (aka «Rösslispiel» aka «Reitschule»). Im Prolog dreht sich das grosse rote Rund, die Figuren, maskiert, werden schon mal vorgeführt (Kostüme: Irène Stöckli). Es hat beileibe nicht nur Rössli, sondern auch anderes Getier wie Storch oder Wolf, auf dem es sich im Kreis fahren lässt. Liliom ist Angestellter und gleichzeitig Geliebter der Karussell-Besitzerin Muskat (Jana Avanzini). Als sich Liliom in das schöne Dienstmädchen Julie (Raphela Leuthold) verliebt, kündigt ihm die eifersüchtige Muskat die Stelle. Die zwei Liebenden ziehen in eine Bretterbude, die ihnen vom Schnellfotografen Hollunder (der aktive junge Hollunder: Pia Murer; die alte Frau Hollunder: Verena Kaiser) zur Verfügung gestellt wird.

Das Glück will sich für sie nicht einstellen. Im Gegensatz zu Julies Freundin Marie (Melanie Ittmann). Sie findet mit dem langsam, aber sicher gesellschaftlich aufsteigenden Wolf (Theo Barmettler) eine erfüllende Liebe. Aus Gram und Scham über seine Arbeitslosigkeit verkommt Liliom zu einem, der häusliche Gewalt praktiziert und mit dem luschen Fiscur (Albert Müller) zum Kleinkriminellen wird. «Ein Verführer und Gauner» sei er, Liliom, wie es einmal heisst. Er träumt vom Glück, möchte allem Elend entfliehen, am liebsten ins gelobte Land Amerika. Aber dazu braucht es Geld. Von Fiscur lässt er sich zu einem Raubüberfall überreden; dem Fabrikkassier sollen beim Bahndamm draussen die Lohngelder abgeknüpft werden. Was aber in die Hosen geht. Zuvor wird der zockende Liliom von seinem Kumpan über den Tisch gezogen. Der Kassier ist bewaffnet, zwei Polizisten sind schnell zur Stelle. Fiscur haut ab, und der gestellte Liliom ersticht sich, bevor sie ihn fassen können.

Der Titelheld ist tot, das Stück aber noch nicht zu Ende. Fünf von sieben Bildern sind erst gespielt. Nach der Pause hat es Durchzug im Himmel. Drei Detektiv-Engel mit dem Überblick über die entsprechenden Akten essen Äpfel. Liliom kommt vors himmlische Freitod-Tribunal. Das Urteil: 16 Jahre Fegefeuer, Stufe rosarot, bis «Hochmut und Trotz aus dir herausgebrannt sind». Also muss er warten, bis der Tag kommt, an dem er für einen Tag auf die Welt hinunter kann. Unerkannt, als ausgehungerter Bettler, setzt er sich an den Suppentisch seiner Frau Julie und dessen 16-jähriger Tochter Luise (Jessica Herber), der eine ganz andere Biografie ihres unbekannten Vaters vermittelt wurde. Den Stern, den ihr der Unbekannte, der so viel über den toten Vater weiss, schenkt, verschmäht sie schnöde. Den Schlag, den er ihr verpasst, spürt sie nicht. Liliom muss wieder ab in den Himmel. Es hat alles in diesem Stück, das Regisseur Dodó Deér, zum ersten Mal in Stans tätig, auch bearbeitet und übersetzt hat: Liebe, Gewalt, Eifersucht, Tod, Kleinbürgerträume, subproletarische Existenzen, stilisierte Wirklichkeitswelt und himmliche Träumerei. Das Bühnenbild (ebenfalls Dodó Deér) ist ein Mix aus Paletten und Projektionen. In Schräglage, leicht abfallend, bewegt sich das Theaterpersonal auf den Latten, aus denen bei Gelegenheit Blumen spriessen oder Mäuse auftauchen können. Im Himmel droben verläuft unter ihnen eine unsichtbare Rohrpost (amüsanter Gag: wie schnell eine Akte vom Register zum Richter runterschnellt und aus dem Schlitz rausspickt). Bilder im Wald oder am Bahngleis werden als fotografischer Bühnenprospekt projiziert und als Raum mit dem Bühnenboden kombiniert. Da findet die Inszenierung zu manchmal verblüffenden Bildern. Wie bei der Beerdigung, wo filmisch von hinten nach vorne «geschnitten» wird. Vergessen wir die Musik nicht. Sie wird von Roland von Flüe und seinen zwei Söhnen Lukas und Julian live hoch droben auf der seitlichen Technik-Galerie gespielt. Auf Saxofonen, Klarinette, Akkordeon, Schlagzeug, Hackbrett, Kontra- und E-Bass und auch E-Gitarre interpretieren die drei Obwaldner – ansonsten zusammen mit Geigerin Vera auch als Familienband Folka zugange – auf Nidwaldner Territorium Folkjazziges, das Bühnengeschehen untermalt oder als eigenständige musikalische Stimme Teil der Inszenierung wird. Das ist immer spannend anzuhören in einem Stück, das eben alles ist: wirklichkeitsverhaftete Komödie mit tragischer Schlagseite, Märchen und Traumspiel aus alter Zeit, aber im Heute aufgehoben. Manchmal süss-kitschig, was erträglich scheint.

«Liliom. Vorstadtlegende in sieben Bildern» von Franz Molnár; Theater Stans, bis 23.3.