Chli schnorre

Der traditionelle Stammtisch stirbt aus – und wird anderswo neu belebt. Entsteht am gemeinsamen Tisch gesellschaftlicher Konsens oder kann das weg? Ein Besuch bei drei Stammtischen in der Zentralschweiz. 

An einem Tisch in einem Raum mit tiefer Decke, in dem es nach geschmolzenem Käse riecht, verlaufen zwei Gräben. Der eine trennt die Weintrinker von den Biertrinkern. Der andere trennt die Kirchengänger von den Kirchenverschmähern. «Das hier ist einer der intellektuelleren Stammtische», sagt die Kellnerin und stellt ein Glas Rotwein auf den Tisch. Fünf Männer über sechzig lachen, werden rot und schauen auf ihr Glas. Es ist ein Donnerstag im April, kurz nach 18 Uhr, und wie jeden Donnerstag ist heute Männerstamm im Gasthof Rössli in Ruswil. Ein Banker, ein Schreiner, ein Veterinär und ein Theologe sind heute unter anderem gekommen, alle in Rente. «Ich stehe am Morgen auf und habe Feierabend!», ruft einer von ihnen über den Tisch. Am Nebentisch ruft jemand herüber: «Und ich stehe morgens auf und denke an den Feierabend!

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[KURATIERTE AUSGABE Ausgabe] 041 – Das Kulturmagazin × das Lamm • Juni 06/2022

 

1 Rössli oder Bären?

2 Woher kommst du wirklich?

3 Keine Freaks

 

Stammtische wie diesen gibt es in der Schweiz immer weniger. Weil Landgasthöfe vielerorts zumachen, gilt er als vom Aussterben bedrohtes Kulturerbe. Vielleicht auch, weil er keinen guten Ruf hat. Er sei eine Bastion des Männerbundes, ein Safe Space für Sexisten, Rassisten und Antisemiten, so ein weitverbreitetes Klischee. Doch ein neuer Trend läuft dem zuwider: Das Konzept Stammtisch wird umgedeutet und mit neuem Leben gefüllt – auch in der Zentralschweiz.  

Denn der Stammtisch hat Potenzial. Ein gemeinsamer Tisch kann Menschen aus unterschiedlichen Teilen der Gesellschaft zusammenbringen. Dort kann gestritten und sich versöhnt, der vielbeschworenen Spaltung etwas entgegengesetzt werden. In einer Zeit, in der Debatten meistens in sozialen Medien geführt werden, scheint das attraktiv. Doch wie viel Konsens ist erlaubt, bevor ein Stammtisch zu einer Filterblase voller Gleichgesinnter wird? Und wie viel Dissens erträgt er, bevor das Gespräch erstickt? Mit diesen Fragen im Gepäck besuchen wir drei Stammtische in und um Luzern, ländliche und städtische, junge und traditionelle. 

 

1 Rössli oder Bären?

Beni, der Theologe der Runde, komme nur, wenn er predigen wolle, spötteln die Männer am Tisch in Ruswil. Beni kann darüber nur erhaben lächeln. Priester wollte er nie werden, «dafür habe ich die Frauen zu gern», raunt er und grinst. Aber seine katholische Religion ist ihm wichtig. Am anderen Ende des Tischs sitzen Walter und Walter. «Ich geh nur in die Kirche, wenn ich muss», sagt einer der Walters. Zuletzt war er vor einer Woche dort, hat sich aber so über die Predigt geärgert, dass er früher gegangen ist. «Wir sollten beten, damit es den Leuten in der Ukraine besser geht, fand der Priester – so ein Quatsch!», ruft Walter aus.

Ob er Atheist sei? «Ich bin Agnostiker», sagt er. «Ja, es ist wichtig, dass Leute zweifeln», sagt Beni in Richtung Tischende. Walter: «Wenn man nicht verzweifelt.» – «So weit bist du aber noch nicht?» –  «Wenn ich dich anschaue, manchmal schon.» Tischklopfen, lautes Lachen. Walter lehnt sich zufrieden zurück. Beni lächelt wieder erhaben, flüstert: «Die beiden da lachen jetzt, aber eigentlich sind sie fromm», und zeigt auf zwei Männer auf der Bank gegenüber. Die fünf kennen sich schon seit der Primarschule.

 

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[BILD] Kira Kynd

 

An einem der Tische in diesem Raum wurde einst die Katholisch-Konservative Partei gegründet, die später zur CVP wurde und heute Die Mitte heisst. Damals, als der grösste Graben in Ruswil zwischen den Konservativen und den Liberalen verlief, trafen sich die Liberalen im Bären, die Konservativen hier im Rössli und die Büezer:innen drüben im Löwen. Bis heute ist das hier der Stammtisch der werteorientierten Konservativen. Es gibt zwar Gräben, aber besonders tief sind sie nicht. 

Beni passe aber überall rein, sagt er. «Ich kann in den Löwen rübergehen und mich mit den Büezern an den Tisch setzen, wo mal einer blöd schnurrt, ich kann mich aber auch hier hinsetzen und über einen Film sprechen, der gerade im Kino läuft.» Manchmal komme auch einer von der SVP, erzählt die Kellnerin. Der werde dann von den anderen gefoppt. Frauen wären am Männerstamm auch willkommen, aber die Frauen haben ihren eigenen Stamm, jeden Samstagmorgen. Politiker kommen nur, wenn gerade Wahlkampf ist, sagt Walter. Warum ist der Stammtisch hier so beliebt? Man könne halt gut «chli schnorre», sagt Beni.  

Als ein junges Paar den Gasthof verlässt, fragt nach ein paar Sekunden einer in die Runde hinein: «Wie lange geben wir den beiden?» Die Männer verziehen das Gesicht, jemand findet, die beiden würden gar nicht zusammenpassen. «Wir sind hier wie die beiden Alten in der Muppet Show. Wir schauen auf alles hinab», sagt einer der Walters. Um halb acht verabschiedet Beni sich, seine Frau hat Älplermagronen gekocht. Vom Tisch ruft ihm jemand hinterher: «Gib Acht zu den guten Seelen, Beni!» Vier Männer lachen und klopfen auf den Tisch.

 

2 Woher kommst du wirklich?

An einem anderen Stammtisch, ganz in der Nähe vom Bahnhof Luzern, sitzt Walesca Frank am Ende eines sehr langen Tischs und sagt: «Ich habe diesen Stammtisch bewusst ‹Black Stammtisch› genannt, nicht ‹BIPoC-Stammtisch› oder ‹PoC-Stammtisch›.» Frank fragt in die Runde: «Wie bezeichnet ihr euch selbst?» Ein paar Sekunden ist es still. Schliesslich sagt jemand: «Ich habe keine Ahnung. Meistens sage ich einfach: Ich bin Latina. Dann ist das Thema vom Tisch.»

 

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[BILD] Kira Kynd

 

Egal, welche Labels sie für sich angemessen finden: Die 13 Frauen, die sich an diesem Sonntagnachmittag in der «neuen Apotheke» eingefunden haben, fühlten sich vom Aufruf zum «Black Stammtisch» angesprochen. Auf Instagram postete Frank im vergangenen Dezember: «Wir treffen uns, um über alles zu reden. Wir nehmen auseinander, was es bedeutet, schwarz zu sein in diesem Land. Wenn du Lust hast, komm!» Seither kommen jeden Monat neue Menschen dazu.

Angie erzählt: «Wenn ich sage: ‹Ich komme aus Zürich›, dann fragen viele: ‹Okay, aber woher kommst du wirklich?› Wenn ich sage: ‹Meine Eltern kommen aus Kenia›, dann höre ich: ‹Oh, toll! Ich war mal in Namibia!›» Die Leute suchten kulturelle Anknüpfungspunkte, erklärt sich das eine der anderen Frauen, «aber warum nicht den offensichtlichsten Anknüpfungspunkt nehmen, dass wir nämlich beide Schweizerinnen sind? Warum schaust du die Seite von mir an, die anders ist, anstatt unsere Gemeinsamkeiten? Das verletzt mich.»

Wenn man den Frauen so zuhört, zieht sich dieses Gefühl durch, nicht ganz dazuzugehören. Das fängt an bei Biologiebüchern in der Schule, in denen der menschliche Körper immer ein weisser Körper ist. «Aha, ihr Schwarzen tragt eure Babys auch im Bauch? Interessant», kommentiert jemand ironisch. Und es reicht bis hin zur Popkultur, als Yania sagt: «Die Nagellooks, die heute ‹in› sind, haben Schwarze Frauen in den Ghettos der USA schon seit Jahrzehnten gemacht. Aber erst seit Kim Kardashian sie trägt, finden es alle cool.» 

 

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[BILD] Kira Kynd

 

Der Black Stammtisch schafft Anknüpfungspunkte für Menschen, die ähnliche Erfahrungen machen, schafft eine Möglichkeit zum Abgleich. Aber nicht nur: In Zukunft soll er offen für Menschen sein, die keinen Rassismus erleben, aber zuhören wollen. Mit der Hoffnung, so Verständnis zu schaffen, vielleicht sogar Gräben zwischen den Erfahrungen zu überwinden. Dass das auch nach hinten losgehen kann, erfuhr die Gruppe schon beim ersten Treffen. Damals kam eine Frau von der Strasse herein, im Schaufenster hing ein Hinweis auf die Veranstaltung. Sie war erstaunt, wie gut alle Schweizerdeutsch sprächen, und redete von afrikanischen Männern, die angeblich ihre vielen Kinder nicht ernähren könnten. «Wie damit umgehen?», fragt Frank. Nur Fragen sind erlaubt, keine Behauptungen, schlägt jemand vor. Und sie müssen zuerst notiert und dann ausgewählt werden. Zu gross dürfen die Gräben nicht werden, sonst ist es kein sicherer Ort für Austausch mehr, finden alle.  

Das Treffen habe auch etwas Therapeutisches, findet Frank irgendwann. Angie stimmt zu: «Ich liebe meine weissen Freund:innen, sie sehen in mir den Menschen, der ich bin. Aber gewisse Themen kann ich mit ihnen nicht besprechen, weil sie es nicht erleben und nicht auf dieselbe Weise verstehen.» Am Ende zählt Frank auf: «Also, was wollen wir alles ändern? Schulbücher – und den ganzen Rest.»

 

3 Keine Freaks

Wacklige Holztische stehen aneinandergereiht an der Seepromenade in Luzern. Nach und nach kommen Leute an, schütteln Hände, stellen sich vor, setzen sich hin, schauen sich ein paar Minuten wortlos an, so lange, bis dieser und der Nebentisch voll sind. Für die meisten ist es zunächst ein kleines Wagnis, sich an diesen Stammtisch zu setzen. In der Mitte der Tischreihe steht ein Fähnchen mit einem Durchmesser von wenigen Zentimetern. Darauf ein Herz und ein Unendlichkeitszeichen – das Symbol der Polyamorie. Niemand hier will den eigenen Namen in einem Magazin sehen, ein Foto schon gar nicht. Denn hier treffen sich einmal im Monat Menschen, die Beziehungen in «konsensueller Non-Monogamie» führen. 

Zum Beispiel Barbara*. Seit 26 Jahren hat sie zwei Partner: einen Ehemann, mit dem sie zwei Kinder grossgezogen hat, und einen Freund. Ihr Ehemann hat wiederum eine Freundin. Barbara und ihr Mann kamen als Teenager zusammen, aber auf ewig in Zweisamkeit schien ihnen etwas lang. «Wir waren der Meinung, dass es am besten für uns klappt, wenn wir auch andere Personen lieben dürfen.» Den Begriff «Polyamorie» kannten sie damals nicht.  

So geht es vielen der Anwesenden, die alle über vierzig sind, viele über fünfzig und einige noch ein ganzes Stück älter: Das polyamore Leben kam zuerst, der passende Begriff erst später. «Mir war immer klar, dass man mehrere Personen gleichzeitig lieben kann», sagt etwa Urs*, «den Begriff ‹Polyamorie› kenne ich erst seit Kurzem.» Am Wochenende geht Urs manchmal mit seiner Frau und ihrem Partner wandern. Der ist gleichzeitig Urs’ bester Freund. Weder Barbara noch Urs können mit Freund:innen oder Familie über ihre Beziehungen reden. «Einige von ihnen haben sich distanziert, als sie davon erfuhren», sagt Barbara. Und Markus tarnt seine Dates, indem er mit dem Geschäftsauto hinfährt: «Neugierige Nachbar:innen denken dann, ich sei als Berater da», sagt er und lacht. Hier schaut sie niemand schräg an, weil sie mehrere Beziehungen führen. 

 

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[BILD] Kira Kynd

 

Peter* setzte sich schon vor dreissig Jahren mit der Vielliebe auseinander – im Internet. «In den Neunzigern gab es Foren für alles. Wir tauschten uns im geschützten Rahmen aus», erzählt er. «Heute ist das Internet voller Kommerz und jeder Post für immer auffindbar.» Keine guten Bedingungen, um sich über Intimes zu unterhalten. Also gründete Peter Anfang der 2000er den Polystammtisch Luzern – eine Rückkehr in die Privatsphäre des Analogen und zugleich ein Weg, Sichtbarkeit zu schaffen: «Wir wollten, dass Polyamorie etwas ganz Normales wird.» Doch bis heute führen die Menschen hier einen Teil ihres Lebens im Geheimen. Barbara sagt: «Wir treffen uns auch, weil wir uns gegenseitig bestärken in unserer Lebensform. Wir versichern uns, dass wir keine Freaks sind.» Der Konsens als gegenseitige Bestätigung.

Die drei Stammtische vereint, dass es nicht darum geht, Gräben aufzureissen, sondern darum, Gemeinsamkeiten zu finden. Darin, wie man liebt, worüber man lacht oder was man erlebt. Gegensätze haben kaum Platz, andernfalls verliert der Stammtisch seine Intimität. Und trotzdem entsteht ein Konsens, etwa wenn Schwarze Frauen aus ihren individuellen Erfahrungen eine gemeinsame formulieren. Oder wenn polyamore Paare ihre Beziehungsform normalisieren, zum gemeinsamen Konsens erheben, indem sie darüber sprechen. Und auch dann, wenn ein gläubiger Theologe sich mit einem Agnostiker an einen Tisch setzt und der Schenkelklopfer wichtiger ist als die Religion. 

*Name von der Redaktion geändert.


 

041 – Das Kulturmagazin × das Lamm
Kuratierte Ausgabe Juni 06/2022

Text: Anina Ritscher
Bild: Kira Kynd

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