Beklemmende Intensität – «still» von Irina Lorez & Co im Südpol

Pirelli hat, zugegebenermassen, keine Ahnung von Tanz. Das Stück «still» von Irina Lorez & Co aber beeindruckte ihn tief – und liess ihn etwas verstört zurück.

Ich habe mich ja nie um Tanz geschert. Und da ich grandios ungelenk bin, sind mir diese trainierten, beweglichen Menschen mit ihrem Raumgefühl und ihrer Körperbeherrschung seit je suspekt. Gleichwohl ging ich gestern im Südpol «still» von Irina Lorez & Co schauen – und bin jetzt immer noch damit beschäftigt, meine Eindrücke zu verarbeiten. Das Stück beginnt ruhig: Eine Frau (Irina Lorez) sitzt versunken in einem Kreis von französischen Vokabeln, die sie mit Kreide auf den Boden schreibt, neben sich einen Kassettenrekorder, der dieselben Vokabeln und Phrasen wieder und wieder abspielt; die labyrinthischen Vokabelkreidekreise werden immer grösser, die Einkapselung immer prägnanter. Nun stürmt ein stämmiger Mann (Tonatiuh Diaz) die Bühne, betrachtet kurz die Szene, dann dringt er mit immer heftigeren Bewegungen immer tiefer in den Raum der Frau ein, beginnt mit angesichts seiner Körpermasse verblüffender Akrobatik die Kreidevokabeln wegzuradieren, reisst so die Frau aus ihrer Versunkenheit – bis es schliesslich zum Kampf kommt, an dessen Ende er schweissnass zu Boden geht und sie seine Niederlage komplettiert, indem sie erst ihn mit ihren Vokabeln beschriftet, um dann seine Umrisse mit Kreide nachzuziehen, wie man es aus jedem Krimi kennt. Was nun folgt, sind 50 Minuten von höchster Dichte; Tänzerin und Tänzer wechseln sich wiederholt ab in Dominanz und Schwäche, sind wie Magnete, deren Polung sich dauernd ändert, die sich anziehen, um sich gleich wieder abzustossen. Kurz nur tanzen sie synchron, dann überwiegt wieder die Unvereinbarkeit. Das Wechselspiel von Dominanz und Submission wird durch die Physis der Tanzenden gesteigert und überhöht: Hat die kleine und zierliche Lorez die Oberhand, strahlt sie eine packende Ichstärke aus und Diaz wirkt wie ein riesiges Kind; ist er in der Position des Stärkeren, folgen Szenen von beklemmender Brutalität, die zuvor so starke Frau wird zur Puppe. Überhaupt wird mit verstörender Intensität gearbeitet. Ein Bühnenbild gibt es nicht, Lichtmeister und Boa-Veteran Daniel Schnüriger flutet die Bühne oft mit grellem weissem Licht, alles ist überklar zu sehen, kein Raum für Ausflüchte, keine Schonung – die Intimität wird dadurch erstaunlicherweise noch gesteigert, wird fast quälerisch. 
Mittendrin greift Lorez zum Mikrofon, rezitiert Lyrik des Neuenburgers Alexandre Caldara – dass darin die Kastration der Männer gefordert wird («Castrez les mâles!»), scheint nur folgerichtig. Dann wird das Mikrofon zum Requisit, ja zum Instrument; es wird auf die Körper geschlagen, an ihnen gerieben, und Musiker Domenico Ferrari (er heisst tatsächlich so. Neid.) verfremdet die Klänge, baut sie in seine Musik ein. Überhaupt, die Musik! Sie fliesst durch den Raum wie ein dritter, unsichtbarer Mittänzer, unterstützt, interveniert, manipuliert die Stimmung und die Tanzenden. Die Beats sind schwer, steigen nie über 110 bpm, quasi Electro in Zeitlupe. Verblüffend, wie gut das klingt, wie gravitätisch und bedeutungsvoll die altvertrauten, allzu oft gehörten Klänge plötzlich wirken. Am Schluss des Stücks liegt die Frau wieder in den Überresten ihres Vokabellabyrinths, er betrachtet sie von fern – als könnte es unverändert wieder von vorn losgehen. Das Publikum bleibt nach dem Applaus noch minutenlang sitzen, alle in Gedanken versunken, zu viel selber Erlebtes hat man ohne Schonung vorgesetzt bekommen, sah sich selber im Spiegel dieser grossen, kahlen, grell beleuchteten Bühne. Irina Lorez & Co bringen «still» heute um 20 Uhr noch mal; ich empfehle den Besuch wärmstens – auch und gerade Tanzmuffeln, wie ich einer bin. Nachtrag: Etliche Stunden und einigen Alkohol später landete ich in der Gewerbehalle, wo Das Gummi vs. Fish&Fish (Urs Rüegg und Roman Pfaffenlehner) auflegten. Die Gruft war sehr gut besucht, die Stimmung ausgelassen, es wurde viel getanzt – wiewohl auch hier die Beats kaum je auf über 100 pro Minute stiegen. Die Selection war gewohnt exzellent, mit Schwerpunkt 80er-Jahre. Und ich wurde ganz sentimental: Das verwendete PA war ausgesprochen schwach auf der Bassbrust, das versetzte mich gleich zurück in die wilde Zeit, als man in den Pfarreiheimdiscos schliesslich auch keine Subwoofer hatte. Ach, süsse Nostalgie!
 Und einen Vorteil hats ja, wenn die DJs über 35 sind: Die Musik ist nicht so gnadenlos laut, weil aller Trommelfelle schon an jugendlicher Elastizität eingebüsst haben. Wie nett es doch ist, wenn man sich auch noch unterhalten kann! Hinzu kommt: Das Gummi vs. Fish&Fish sind zurzeit die heisseste Discombo am Platz, man muss das neidlos anerkennen.