«Annebäbi, Annebäbi, das isch dini Gschicht»

In Escholzmatt fand am Samstag die Premiere des Stücks «S Vogel Anni» statt, das den Fall des Dorforiginals Anna Vogel (1868 -1948) nacherzählt. In eine der angesehensten Familien des Dorfes hineingeboren, ging es mit der in ihrer Jugend noch hochnäsigen und verwöhnten Dame nach dem Tod ihrer Eltern nur noch abwärts. Dem Jodlerchörli Lehn ist mit dem von Sämi Studer verfassten und von Simon Strebel inszenierten Schauspiel ein sehr berührendes und beunruhigendes Portrait dieser Frau, aber auch der (damaligen) Gesellschaft gelungen.

Der Kronensaal ist eng gestuhlt und randvoll. Kellnerinnen hetzen zwischen Tischen und Theke hin und her, die letzten Biere, Weine und Pommesfrites-Portionen werden serviert, bevor das Licht ausgeht. Das Theater hat bereits begonnen. Im Entrée jagen Kinder das Vogel Anni mit Tannenzapfen und riefen «Vogelschüchi, Vogelschüchi!», vor den Toiletten sassen zwei an einem Wirtshaustisch und soffen, während sie über die Konservativen herzogen. Escholzmatt war damals im auslaufenden 19 Jahrhundert, man staune, grösstenteils liberal. Und auch im Saal mischten sich die Schauspieler unters Volk und palaverten. Das Licht geht aus. Auf der Bühne sehen wir eine Trauergemeinde mit einem Sarg. Die Erzählerin (Ruth Studer) beginnt. «S Vogel Anni» (Anna wurde ich getauft, bitteschön!) wird in drei Lebensabschnitten – Kind (Tamara Lötscher), junge Frau (Susanne Roos) und ältere Dame (Annalies Studer-Portmann) – gezeigt, die am Ende de Spiels auf einer Meta-Ebene aufeinandertreffen. Die Theaterproduktion des Jodlerchörli Lehn besticht durch ein authentisches Spiel der Laienschauspieler, wie durch die virtuose Balance zwischen tragischen und komischen Elementen. Die kultivierte Tradition macht aber auch vor Innovation nicht halt. Das Stück arbeitet oft mit Techniken aus dem Film, wie Rückblenden, Vorschauen und Einspielungen. Ihre Vielbödigkeit ist eine der grossen Stärken der Produktion. Recherchierte Fakten und dramatische Fiktion vefliessen wie die verschiedenen Zeiten, in denen die Geschichte spielt. Ab und zu wird die Illusion durchbrochen, die Erzählerin wendet sich an einzelne Figuren oder das Publikum. Dazwischen wird auch mal eins gejodelt, natürlich nur wenn’s passt, aber dann dafür gern zu jedem Anlass. Haupthandlungsort ist der Dorfplatz mit dem Hotel Löwen und dem Spittelhaus, das lange Zeit im Besitz von Annis Familie war. In der Beiz trifft man sich. Während der Kirche, nach der Kirche, nach Operettenaufführungen – in der 1899 aufgeführten «Die Glocken von Corneville» spielte das Anni mit – oder auch einfach so. Da sind der Dorftrunkenbold Kruteler (Sämi Studer), der labile Emil Felder (Franz-Markus Stadelmann), der von seiner gebieterischen Frau und Serviceangestellten Ida (Bernadette Roos) zum Kandidieren für den Grossrat genötigt wird. Da sind aber auch die Jungen, die scharwänzeln. Ums Anni buhlen oder ihre Freundin, die Julie. Man besäuft sich, man plagiert, man kriegt was ab, oder halt nicht. Und Anni? Erst behütet, verhätschelt und von allen gefreit, heiratet sie 1911, nachdem sie durch schlechtes Geschäften nach dem Tod ihrer Eltern schon einen Grossteil des Erbes versiecht und Ansehen eingebüsst hat, den Rossknecht Peter Stadelmann (Heinz Grimm). 1940 verliert sie gar noch das Spittelhaus und zieht mit ihrem Ehemann, der ihr stets die Essensreste vom «Bahnhof» heimbringt, zuvor aber gerne noch ein paar schnappt, in ein Schürli im Waldbühl, wo sie ein paar Jahre später (1948) stirbt.