
01.09.25
Theater
Zeichensystem einer fernen Zukunft
Wie warnt man die Nachwelt vor einem Atommülllager? Nina Halpern inszeniert im Südpol «Au clair de la lune», eine Geschichte über nukleare Semiotik.
Tabea Andres (Text) und Emanuel Ammon (Bild)
Nina Halpern sitzt auf einem kleinen Sofa im Wohnzimmer ihrer Altbauwohnung in der Luzerner Innenstadt. Hohe Räume, liebevoll eingerichtet, Bergamotte liegt in der Luft. Ein stilles, beinahe kontemplatives Ambiente. Die Kinder sind in der Kita. Aktuell arbeitet die Regisseurin zum zweiten Mal mit dem Autor Christoph Fellmann an einem neuen Stück. «Au clair de la lune» heisst es.
Halpern und Fellmann hatten sich bereits 2022 bei «The Fairy Queen» gefunden – einer Fassung von Henry Purcells Oper, die sie im Südpol mit einem Erzählstrang über zwei Käferforscher, grotesken Dialogen und skurrilen Einfällen zu einer eigenwilligen Inszenierung erweiterten. Nun also das nächste Projekt. Dieses Mal, erzählt Halpern, geht es um nukleare Semiotik. Das Zeichensystem einer fernen Zukunft. Wie lässt sich der Nachwelt vermitteln, wo unser Atommüll vergraben ist? Und das nicht nur in Jahrzehnten, sondern in Jahrtausenden?
Ein ernstes, bislang ungelöstes Problem mit Potenzial zur Absurdität. «Christoph ist ein unglaublicher Rechercheur. Als er mir den Text gab, dachte ich: Das kann doch nicht wahr sein. Dabei basiert alles auf Fakten.» Mit einer Mischung aus Ungläubigkeit und Faszination spricht die 37-jährige Regisseurin darüber, dass man erwägt, Katzen zu züchten, die leuchten, sobald sie sich Atommüll nähern. Oder ob künftig jeder Haushalt lernen sollte, sich um seinen eigenen Atommüll zu kümmern. Vielleicht brauche es auch eine Atommüll-Mythologie: «Geschichten überdauern bekanntlich am längsten.»
Bizarre Taskforce soll die Nachwelt retten
Im Stück «Au clair de la lune» beschäftigt sich damit eine Taskforce. Sie kommt im «Museum of the Losses of a Certain Humankind», kurz Moloch, zusammen und versucht, menschliche Artefakte der Vergangenheit zu ergründen. Gleichzeitig erforscht sie Möglichkeiten für eine Kommunikationsform, die auch in 100 000 Jahren noch funktioniert. «Wenn man bedenkt, wie lückenhaft die Überlieferung schon in kurzen Zeiträumen ist, scheint dieses Unterfangen zum Scheitern verurteilt», sagt Nina Halpern.
Vielleicht braucht es auch eine Atommüll-Mythologie: «Geschichten überdauern bekanntlich am längsten.»
Die Bühne gehört einem bizarren Ensemble. Godzilla, das radioaktiv verseuchte Monster aus zahllosen Filmen, erscheint hier nicht als gigantisches Wesen, sondern vermenschlicht, als Verkörperung der Generation Z. «Sie möchte in der WhatsApp-Nachricht entschlüsseln, was ihr Crush mit einem Auberginen-Emoji sagen will, während sie gleichzeitig mit einer nuklearen Last ringt», erklärt Halpern. An Godzillas Seite steht «Miss Atomic Bomb» Lee Merlin, berühmt durch ein Foto, das sie im Bikini mit Pilzwolkenmotiv zeigt, eine Referenz auf die Atomtests in Nevada. Lee hätte viel zur Kernfusion zu sagen. Wenn ihr jemand zuhören würde. Dritter im Bunde: Louis Réard, der in den 1940er-Jahren mit dem Bikini nicht nur ein neues Kleidungsstück erfand, sondern ein modisches Beben auslöste. Benannt nach dem Bikini-Atoll, Schauplatz der ersten US-Atombombentests. Wie die Explosionen dort galt auch Réards Zweiteiler als fortschrittlich – und skandalös zugleich. Als Grundrauschen zieht sich das französische Volkslied «Au clair de la lune» durch die Inszenierung, die erste Tonaufzeichnung einer menschlichen Stimme und zugleich Namensgeberin des Stücks.
«Im Idealfall finden wir bei der Arbeit am Stück eine Antwort auf eines der grössten Probleme der Menschheit», sagt Halpern. Auf jeden Fall wolle man mit «Au clair de la lune» einem düsteren Thema etwas entgegensetzen: einen Abend, bei dem sich das Publikum sinnlich mit der Sprache einer nuklearen Zukunft auseinandersetzt. Eine Inszenierung mit Strahlkraft sozusagen.
Auf vielen Bühnen
Diese forschende Herangehensweise ist typisch für Nina Halpern. Seit Jahren prägt sie die freie Theaterszene: als freischaffende Regisseurin, Theaterpädagogin und Leiterin des Basler Theaters Reactor. Im Zentrum steht dort eine künstlerische Praxis, bei der Schauspieler:innen gesellschaftliche Konflikte mit dem Publikum durchleben und neu verhandeln – Themen wie Rassismus, sexuelle Belästigung oder häusliche Gewalt. Halpern moderiert diesen sensiblen Austausch, was sie mitunter als herausfordernder beschreibt als Regiearbeit. «Du musst extrem wach sein, aufmerksam und wertfrei», sagt sie, «und Raum für emotionale Reaktionen zulassen». Solche Ansprüche scheinen sich durch ihr Leben zu ziehen: präsent sein, Entscheidungen treffen und Verantwortung übernehmen. «Ich funktioniere am besten, wenn ich in der Rolle der Entscheidungsträgerin bin», so Halpern. «Ich will und brauche die Freiheit, meine Arbeit selbst zu strukturieren.»
Diese Struktur gilt nicht nur für ihren beruflichen Alltag. Halpern lebt mit ihrem Partner und zwei Kindern, das jüngere ist neun Monate alt. In den letzten Jahren war sie an Produktivität kaum zu überbieten. Neben renommierten Projekten wie dem Welttheater Einsiedeln inszenierte sie 2024 erstmals Soloprogramme für die Kabarettist:innen Lisa Brunner, Julia Steiner und Dominik Muheim. Die Premiere von Muheim fand nur eine Woche vor dem Geburtstermin statt. «Die Arbeit mit Künstler:innen ist eine eigene Welt», sagt Halpern. «Ich habe unglaublich viel gelacht, mein Bauch wurde kräftig durchgerüttelt.»
Mit der zweiten Mutterschaft habe sich ein Perspektivenwechsel eingestellt. Sie wolle in nächster Zeit weniger Projekte umsetzen. Beim ersten Kind sei das noch anders gewesen: «Da brannte ich nach dem Mutterschutz darauf, wieder zu arbeiten.» Die berufliche Identifikation war stark, die mit der Mutterrolle noch brüchig. Es folgten der erste Lockdown und eine erzwungene Auszeit von einem halben Jahr. Diese Zeit öffnete ihr den Raum, sich ins Muttersein einzuleben. «Ich lerne es fortwährend im Tun. Ich habe mich selten so oft so inkompetent gefühlt. Und gerade deshalb ist es mein grösstes Lernfeld.» Damit einher gehe eine Gelassenheit, die inzwischen auch ihre künstlerische Arbeit beeinflusse. Sie sei besser darin geworden, Projekte abzusagen. Vor allem aber empfinde sie sich als privilegiert, auswählen zu dürfen. Ihre Agenda ist bis Ende 2028 gefüllt. Halpern vertraut darauf, dass es sie immer wieder an neue Orte verschlägt. Nun also erstmal in atomare Gefilde.






