
01.06.24
Kunst
Warhol in Steinhausen
Die Nicola Erni Collection bewegt sich im seltenen Zwischenbereich von öffentlich zugänglichen Museen und geschlossenen Privatsammlungen. Ein Augenschein vor Ort.
Matthias Gabi (Text) und Flavio Karrer (Bilder)
Biegt man in Steinhausen, einer Vorortsgemeinde von Zug, von der Sumpfstrasse in den Erlenweg ab, befindet man sich schlagartig in einer anderen Welt. Die beiden Gebäude, in denen sich die Sammlung der Zuger Milliardärin Nicola Erni befindet, heben sich mit ihren markanten Fassaden, einer aus Kupfer und einer aus Kalkstein, auffällig von den Büro- und Gewerbebauten der Umgebung ab. Plötzlich dominieren nicht mehr Anlieferungsrampen und Parkplätze das Erscheinungsbild, sondern ein mit Skulpturen bespielter Vorplatz. Dieser befindet sich in einem für Schweizer Agglomerationen typischen Industriegebiet, in dem sich Landwirtschaft und Gewerbe vermischen, die aktuell verbliebenen Grünflächen aber in Zukunft vermutlich auch noch verbaut werden.
Bis ins 19. Jahrhundert war die Gegend eine Sumpflandschaft, die nur schwer passierbar war. Um den Standort für Unternehmen attraktiver zu machen, hat die Gemeinde Steinhausen Anfang der Nullerjahre einen Teil der Sumpfstrasse in Turmstrasse umbenannt, weil man befürchtete, die Firmen möchten das Wort «Sumpf» nicht in ihrer Geschäftsanschrift verwenden, wie in einem Artikel der «Zentralschweiz am Sonntag» seinerzeit berichtet wurde.
Von Paparazzi-Fotos bis Basquiat
Nicola Erni habe den Standort eher aus praktischen Gründen gewählt. «Als es in ihrem Wohnhaus in Zug nicht mehr genügend Platz für die Kunst gab, ist der Wunsch nach einem eigenen Sammlungsgebäude aufgekommen », sagt Stefan Puttaert, früher beim Auktionshaus Sotheby’s Schweiz tätig und seit 2019 CEO der Nicola Erni Collection. Da in Zug allerdings kein geeignetes Grundstück zu finden war, wich Erni nach Steinhausen aus, wo 2013 das erste Gebäude bezogen wurde. Als 2021 das zweite eröffnet wurde, habe sie sich entschieden, die Sammlung der Öffentlichkeit zu zeigen. Seitdem können sich Interessierte über die Website für kostenlose Führungen anmelden, die in kleinen Gruppen stattfinden und rasch ausgebucht sind. Jeweils am Ende eines Monats werden die Termine für den übernächsten Monat aufgeschaltet.
An einem Nachmittag im März empfängt Stefan Puttaert zwölf Besucher:innen in der Eingangshalle des jüngeren Gebäudes. Aus dem Hintergrund erklingt dezente Jazzmusik, welche die Gruppe während des gesamten Rundgangs durch die Räume begleiten wird. Bevor Puttaert eine allgemeine Einführung in die Sammlung gibt, bittet er höflich, keine Fotos zu machen, um die Werke «mit den eigenen Sinnen» zu erleben.
Nicola Erni begann ihre Sammeltätigkeit vor rund 25 Jahren. Zu Beginn interessierte sie sich vor allem für Paparazzi- Fotos aus den 1960er- und 1970er-Jahren, die sie in Antiquariaten oder direkt bei den Fotografen aufstöberte. Heute umfasst ihre Sammlung über 6000 Werke. Neben rund 5600 Fotografien, die den grössten Teil ausmachen, kommen über 600 zeitgenössische Kunstwerke aus den Bereichen Malerei, Installation und Skulptur hinzu. Hier bilden die zahlreichen Arbeiten von Jean-Michel Basquiat einen wichtigen Schwerpunkt. 2021 ordnete Sam Keller, Direktor der Fondation Beyeler, die selbst im Besitz einiger Werke des Künstlers ist, in der «Sonntags Zeitung» die Sammlung als «eine der weltweit grössten, wenn nicht die grösste Basquiat-Sammlung überhaupt» ein.
Der Rundgang in der Nicola Erni Collection beginnt vor grossen Fotoabzügen von Peter Lindbergh, der in den 1990er-Jahren das Bild der sogenannten Supermodels mitgeprägt hat. Über Gian Paolo Barbieri, einen italienischen Modefotografen, gelangt man zu fünf eindrücklichen «Gamboas» der brasilianischen Künstlerin Beatriz Milhazes. Für ihre farbenfrohen Werke kombiniert sie folkloristische Aspekte der brasilianischen Kultur mit der europäischen Moderne, wie Stefan Puttaert ausführt. In diesem Fall hat sie gefundene Materialien des Karnevals von Rio de Janeiro, wie zum Beispiel Stoffblumen oder bunte Plastikperlen, an meterlangen Schnüren befestigt und diese als kreisförmige Installation von der hohen Decke baumeln lassen.
An einer nachgebauten Passfotokabine von Elmgreen & Dragset und einer lebensechten Frauenfigur von Duane Hanson vorbei kommt man zu mehreren Wänden mit Fotografien. Hier zeigt sich, dass sich die Aneinanderreihung verschiedener Positionen nicht automatisch zu einer stimmigen Ausstellung zusammenfügt. Bilder des britischen Werbefotografen Miles Aldridge und der australischen Modefotografin Emma Summerton werden zusammen mit Werken von Cindy Sherman, einer der wichtigsten zeitgenössischen Fotokünstlerinnen, gezeigt. Was als Bildstrecke in der «Vogue» gut funktioniert, eignet sich nicht automatisch als grosser Abzug an der Museumswand. Während Sherman etwa die stereotype Darstellung weiblicher Körper hinterfragt, fehlt es den Aufnahmen von Aldridge und Summerton im Vergleich an konzeptueller Tiefe. Überzeugender wirkt der nächste Raum, der dem Werk des marokkanischen Künstlers Hassan Hajjaj gewidmet ist. Auf seinen Fotografien posieren bunt bekleidete Modelle vor bekannten Logos wie Chanel oder Dior. Die Kleider hat er selbst entworfen, und was aussieht wie eine ausgefallene Kampagne, ist eine Inszenierung von Hajjaj selbst.
Die Ausführungen von Stefan Puttaert sind eloquent und faktenreich. Trotz seiner Routine wirken die Erklärungen frisch, seine Hingabe für die Sammlung ist spürbar, seine Begeisterung ansteckend. Gleichzeitig ist er die einzige Ansprechperson und Informationsquelle, über die etwas zur Nicola Erni Collection zu erfahren ist. Die Sammlerin selbst äussert sich nur selten öffentlich. Die Informationen auf der Website könnten detaillierter sein und die Kataloge, die in den Ausstellungsräumen aufliegen, sind bis auf zwei Ausnahmen nur für interne Zwecke produziert worden. Ein Gesamtbild der Sammlung bekommt man in diesem halböffentlichen Modus nur bedingt. Man arbeite aber an einer umfangreichen Publikation zur Sammlung, die im Herbst 2025 erscheinen wird, so Puttaert.
Erweitertes Wohnzimmer
Die Räume und Etagen im jüngeren Gebäude, in dem an diesem Tag die Führung stattfindet, sind so angeordnet, dass sich die Werke von unterschiedlichen Standpunkten aus betrachten lassen. Ebenfalls auffällig sind die runden Formen, die sich durch die Innenarchitektur ziehen. Tische, Stühle, Teppiche und Designstücke sind zu inselartigen Sitzgelegenheiten kombiniert. Nicola Erni versteht die Sammlungsräume nicht als White Cube, sondern als «Extended Living Room», wie sie 2020 der «Luzerner Zeitung» erzählte. Dieses Konzept erinnert an Ausstellungsansichten von Kunstmuseen zu Beginn des 20. Jahrhunderts, auf denen Möbel, Teppiche und Vasen mit Blumen zu sehen sind. Für die Museumsgründer: innen gehörten diese Bestandteile einer bürgerlichen Wohnstube in die Ausstellungsräume, als ob sie das Museum wie ihr eigenes Zuhause einrichten wollten. Die weitläufigen Räume der Nicola Erni Collection verströmen allerdings eine museale Atmosphäre und lassen mit ihrem repräsentativen Charakter eine Stimmung aufkommen, wie man sie in einer Wohnstube nicht erwarten würde. Die Architektur der Sammlungsgebäude ist darauf ausgelegt, Kunstwerke auszustellen und zur Geltung zu bringen. Ob man in solchen Ausstellungsräumen auch wohnen möchte, ist eine andere Frage.
«Die Sammlung hat etwas Geheimnisvolles. Die Ausstellungen in kleinen Gruppen zu besuchen, immer wieder etwas Neues zu entdecken, das schätzen die Leute und das wollen wir beibehalten.»Stefan Puttaert, CEO Nicola Erni Collection
Geheimnisvolle Sammlung
Mittlerweile ist die geführte Gruppe im grössten Saal der Ausstellung – und im übertragenen Sinne auf dem Podest – der Nicola Erni Collection angelangt. Hier hängt das Schlüsselwerk der Sammlung, das monumentale, drei Meter hohe und zehn Meter breite Panel von Andy Warhol mit dem Titel «Sixty Last Suppers» aus dem Jahr 1986. Dafür hat der Pop-Art-Künstler 60 schwarz-weisse Siebdrucke des Abendmahls von Leonardo da Vinci zu einem grossen Bild zusammengefügt. Dieses wurde laut der Online-Plattform Artnet 2017 beim Auktionshaus Christie’s in New York für 60,9 Millionen US-Dollar versteigert. Im selben Raum befindet sich das Mosaik «The Broken Thirteen (Last Supper)» des afroamerikanischen Künstlers Rashid Johnson von 2023. Vis-à-vis hängen Bilder der Reihe «Collaborations », die Warhol und Jean-Michel Basquiat Mitte der 1980er-Jahre gemeinsam gemalt haben.
Wäre es möglich, dass die Nicola Erni Collection in Zukunft reguläre Öffnungszeiten und ein erweitertes Vermittlungsangebot anbietet? Stefan Puttaert meint dazu: «Die Sammlung hat etwas Geheimnisvolles. Die Ausstellungen in kleinen Gruppen zu besuchen, immer wieder etwas Neues zu entdecken, das schätzen die Leute und das wollen wir beibehalten.» Eine weitere Öffnung sei grundsätzlich denkbar, dazu fehle es allerdings an der Organisation und der Infrastruktur, wie sie in öffentlichen Museen vorhanden wären. Man sei aber beispielsweise Kollaborationen mit der Universität Zürich und der Kunsthochschule Luzern eingegangen. Die Studierenden hätten vor Ort die Möglichkeit, mit den Werken aus der Sammlung in Kontakt zu kommen, so Puttaert.
Nach dem anekdotenreichen Rundgang hat sich der Eindruck verfestigt, dass die Sammlerin für jede Position eine tiefe Faszination hegt, dass es aber insgesamt schwerfällt, einen roten Faden zwischen den vielen, sehr unterschiedlichen Werken zu erkennen. Wäre es denkbar, dass die Nicola Erni Collection dereinst als Schenkung Eingang in ein öffentliches Museum findet? «Das ist im Moment für die Sammlerin kein Thema», sagt Puttaert. Sie sei damit beschäftigt, die Sammlung zu erweitern und insbesondere jüngere Künstler:innen, von denen sie begeistert und überzeugt sei, mit Ankäufen sowie Platzierungen in Galerien und Institutionen zu unterstützen.