
01.03.24
Film
Orientierungslos im halbdunkel
Eine Frau rennt vor ihrem Neugeborenen davon und versteckt sich in der Fremde. «Les paradis de Diane» wagt eine Annäherung an das Phänomen postpartaler psychischer Erkrankungen.
Sara Winter Sayilir (Text) und Carmen Jaquier, Jan Gassmann (Filmstills)
Ein liebendes Paar im wenig belichteten Close- up, Hände verschränken sich ineinander, ein hochschwangerer Bauch wird gestreichelt. Lächeln, Erwartungen, letzte intime Momente zu zweit. Dann im Kreisssaal, erneut im Halbdunkel, stehen zwei Personen in OP-Kleidung und der Kindsvater um eine sich fast tonlos windende, wütend-leidende Gebärende. Im Kontrast zu deren Abwehr die sanft ermutigenden Worte der Hebamme: Das Köpfchen sei schon im Becken, die Mutter dürfe selbst mal fühlen. Der grösste Schmerz steht noch bevor.
Apathisch lässt Diane (Dorothée de Koon) den ersten Besuch im Wochenbett über sich ergehen und flüchtet auf die Toilette, um allein zu sein. Ihr Partner Martin (Roland Bonjour) mit seinem ausgestellten Vaterglück ist nur zusätzliche Last, und doch wird nichts leichter, als er geht. Vom Baby bleibt nur eine Ahnung, die Regisseur:innen Carmen Jaquier und Jan Gassmann lassen das Publikum von «Les paradis de Diane» keine Bindung aufbauen. Es geht in diesem Film ausnahmsweise mal nur um die Mutter – wohl bewusst im Gegensatz zur Realität nach der Geburt eines Kindes. Diane nimmt ihr Kind nicht auf den Arm, als es weint. Nicht einmal, als sie durch einen Vorhang im angrenzenden Abteil den Schatten einer anderen Wöchnerin sieht, die gerade ihr Baby beruhigt. Stattdessen irrt Diane nachts durchs Spital, verzweifelt an einem kaputten Essensautomat, reagiert dann doch kontrolliert auf Ansprache von aussen. Was soll sie auch sagen? «Ich habe gerade ein Kind geboren und will es nicht?» Dafür hat kaum jemand Verständnis.
Was soll sie auch sagen? «Ich habe gerade ein Kind geboren und will es nicht?» Dafür hat kaum jemand Verständnis.
Nicht Mutter sein wollen
Etwa 15 Prozent der Frauen – in der Schweiz rund 12 500 pro Jahr – erleiden eine postpartale Depression oder gar eine Psychose. Das ist keine Entscheidung, wie Diane zu Martin sagt: «Ich hatte keine Wahl.» Still entschwindet sie allein in die Nacht, in Klamotten, die an Klischees von entlaufenen Psychiatriepatient:innen erinnern. Diane ist unauffällig, niemand nimmt Notiz. Das Geld im Portemonnaie reicht, um den Bus nach Spanien zu nehmen, dort ein Hotel zu bezahlen und Schmerzmittel in der Apotheke zu holen. Wie von selbst bringt sie ihre Flucht dorthin, wo keine Kinder sind, wo Frauen nur stillos saufende Touristinnen, Ware oder Gefallene sind: in einen abseitigen Ferienort an der Costa Blanca. Sie vergräbt das klingelnde Handy und schmeisst das Portemonnaie weg, um nicht gefunden zu werden. Dann schluckt sie ein Schmerzmittel und kühlt ihre laktierenden Brüste.
Dianes seelischer Zustand transportiert sich durch ein klar komponiertes Zusammenspiel aus symbolgeladenen Bildern, auf die Essenz reduzierte Dialoge und gezielt eingesetzte Sounds und Songs. Erklärt wird nichts, auch nicht, als Martin am Telefon und später in persona Fragen stellt, sie unter Druck setzt, um Rückkehr bittet. Diane fehlen die Worte. «Was ich getan habe, kann nicht rückgängig gemacht werden», bringt sie erst Rose gegenüber heraus, einer älteren Französin mit Stil und ohne Orientierung, der Diane auf der Strasse begegnet. Die strenge Alleinstehende gibt Diane einen Funken Selbstachtung zurück, als sie ihr beweisen darf, dass sie kein Monster ist. Doch Diane vertraut sich nicht an, kämpft weiter allein, im Innern, wo es keiner sieht. Auch Rose schweigt zu ihrer eigenen Geschichte. Vielleicht, weil es aus der Sicht der Filmemacher: innen noch keine akzeptierten Worte gibt für Frauen, die nicht Mutter sein wollen, nicht können.
Lieber lassen sie die Protagonistinnen Dinge tun, die Frauen machen, wenn sie sich selbst verachten: Diane lässt sich auf einen derangierten Mann ein, dem sie gar nicht nah sein will, nur um angeekelt vor sich selbst erneut wegzurennen und nicht einmal genug Kraft aufzubringen, den letzten Schritt zu gehen. Sie balanciert am Rande des Wahnsinns. «Vous êtes une île sauvage», sagt Rose, eine wilde Insel. Vereinsamt ist die Frau, die nicht Mutter sein kann.
Das Paradies ist anderswo
Dunkle, verschwommene Nachtszenen, blendende Lichter, es flackert, Nebel und entsättigte Farben: Selten sieht man mehr als Diane selbst, die Welt im Film ist reduziert auf einen sehr verengten Ausschnitt, fast wie stetig kurz vor der Ohnmacht. Wer psychisch belastet ist, dessen Welt wird kleiner, der Handlungsspielraum beschränkt sich auf kleine Akte des Widerstands. So verengt sich auch der Sound immer wieder, als zöge sich Dianes Wahrnehmung plötzlich zurück nach innen. Nicht zufällig singt sie immer wieder ein Wiegenlied über eine Schnecke, die ihr Köpfchen aus dem Häuschen streckt. Selbstberuhigung versus Wahn. «Sie können selbst mal fühlen», die Erinnerung an das kleine Köpfchen zwischen ihren Beinen bricht sogar beim Sex über sie herein. Diane balanciert am Rand des Abgrunds. Schuldgefühle, Selbsthass, Scham. Und niemand nimmt es wahr. Das Paradies ist anderswo.
Der Film bietet keine Erklärungen, keine Lösungsansätze und auch nur wenig Hoffnung. Dabei sind postpartale Depressionen behandelbar, wenn sie erkannt und benannt werden. Dafür müssten aber Tabus fallen, in den Frauen selbst, zwischen den Liebenden und in der Gesellschaft. Vielleicht ist es das, was «Les paradis de Diane» möchte: einen Einblick bieten in den Status quo – in die traurige Realität einer Betroffenen, in das komplexe Feld psychischer Erkrankungen. Dass dabei nicht die Situation des Kindes gegen die der Mutter aufgewogen wird, ist eine Stärke des Films. Fast verzeiht man Carmen Jaquier und Jan Gassmann, dass die Bild- und Soundsymbole teilweise etwas überdeutlich daherkommen – nur die Tragik des Themas verhindert hier und da ein Schmunzeln.