01.03.24
Literatur
Sich freischreiben
Wie mit einem Trauma weiterleben? Um diese Frage kreist der neue Roman der Luzerner Autorin Alice Schmid. Ein feministischer Ermutigungsroman über das Aufwachsen, Verarbeiten und zu sich selbst finden.
Christine Lötscher (Text) und Ayse Yavas (Bild)
«Du bist vorlaut und eine andere geworden.» Mit diesem Satz beginnt der neue Roman der Filmemacherin und Autorin Alice Schmid, der soeben unter dem Titel «Die hängende Säge» erschienen ist. Ein junger Mann richtet ihn an eine junge Frau, an die Ich-Erzählerin Lilly, die nach einem Jahr aus dem Ausland zurückgekehrt ist. Aufgewachsen in einem Dorf im Entlebuch, hat sie zu Hause Gewalt erfahren, wurde geschlagen und erniedrigt. Mit 16 Jahren wurde sie von einem Lehrer sexuell missbraucht und verstummte. Daraufhin wird sie nach Belgien in ein Kinderheim geschickt, wo die zarten Anfänge einer grossen Entwicklung hin zur Befreiung aus den Zwängen der sozialen und familiären Herkunft einsetzten.
Der Satz, der knallt wie ein Peitschenhieb, taucht im Text immer wieder auf, wie ein Refrain. Er steht für eine zentrale Bewegung, die sich durch den Roman zieht – und durch Alice Schmids filmisches und literarisches Werk. Sätze können gewaltsam sein, wie Schläge, aber auch einen Aufbruch auslösen. Und sie können in der künstlerischen Verarbeitung traumatischer Erfahrungen umgeschrieben werden. Im Roman wird dieser Satz – «Du bist vorlaut und eine andere geworden» – langsam verwandelt: Die Ich-Erzählerin Lilly ist nicht, wie ihr braver und schüchterner Jugendfreund Karl glaubt, vorlaut geworden, sondern sie findet ihre Stimme. Und sie ist keine andere geworden, sondern im Begriff, in einem schmerzhaften Prozess zu sich selbst zu finden. Die Wahl der Erzählperspektive ist deshalb bedeutsam: Es ist Lilly selbst, die ihre Geschichte erzählt.
Geschichten mit anderen teilen
«Die hängende Säge» ist ein Coming-of-Age-Roman, ein Roman über das Weiterleben mit einem Trauma, ein feministischer Ermutigungsroman. Zu verraten, dass Lilly am Ende – da ist sie 22 Jahre alt und auf dem Weg zur Filmregisseurin – noch einmal in eine missbräuchliche Situation gerät, sich diesmal aber mit einem lauten Hilfeschrei zur Wehr setzt, ist kein Spoiler. Denn das Wissen darum, dass Lilly trotz schwieriger Umstände wild entschlossen ist, auszubrechen aus der Spirale von Wiederholungen ihrer traumatischen Erfahrung, ist wichtig für den Roman. Die beiden Mottos, die dem Roman vorangestellt sind, beide von Ikonen des feministischen Denkens, verraten viel über den Weg, den Lilly gehen wird. Da steht: «Ich bin da, mein Herz schlägt» von Simone de Beauvoir, gefolgt von einem Satz von Virginia Woolf: «Wenn ich nicht ich selbst bin, bin ich niemand.»
«Ich hoffe, dass ich mit dem Buch auch Jugendliche erreichen und ermutigen kann», sagt Alice Schmid im Gespräch. «Noch heute gibt es viele junge Menschen, Frauen und Männer, die solche Erfahrungen machen müssen.» Einfach sei es nicht, an einen Punkt zu kommen, an dem man wirklich bereit sei, sich zu wehren, doch umso wichtiger sei es, Lilly als Leser:in auf diesem schweren, aber hoffnungsvollen Weg zu begleiten. Es sei wichtig, diese Geschichten zu erzählen, sie mit anderen zu teilen, darüber zu reden.
Immer auf der Suche
Wer Alice Schmids Dokumentarfilm «Burning Memories» gesehen hat, der 2021 in die Kinos kam, erkennt die Parallelen zwischen Lillys Geschichte und der Biografie der Autorin. Alice Schmid wurde als Kind regelmässig von ihrer Mutter geschlagen. Im Alter von 16 Jahren lockte sie ihr Schwimmlehrer im Sportlager in ein Zelt und zwang sie zu sexuellen Handlungen. Erst 50 Jahre später kommt die verdrängte Erfahrung an die Oberfläche, ausgelöst durch ein Gemälde, das ein nacktes Mädchen zeigt, hinter ihm einen riesigen schwarzen Schatten. «Ich hatte nicht nur verdrängt, was mir damals passiert war, ich hatte es komplett vergessen», sagt sie im Film. Die Erinnerung lässt sie ihre eigene Arbeit mit anderen Augen sehen, denn als Dokumentarfilmerin hatte sie jahrzehntelang Filme über Kinder und Gewalt gedreht, immer aus der Perspektive der Kinder, oft in Kriegsgebieten. In «Sag Nein» (1993) geht es um Kindsmissbrauch, in Liberia und Sierra Leone drehte sie mit Kindersoldaten, in «Jeder Tropfen für die Zukunft» (1996) begleitet sie ein bolivianisches Mädchen auf seinem zweistündigen Schulweg, und in «Briefe an Erwachsene» (1994) zeigt sie eine Kindheit im verminten Kambodscha. «Gewalt war mir vertraut», sagt sie in «Burning Memories». «Angst kannte ich nicht.» Doch warum das so war, blieb ihr lange ein Rätsel: «Ich war immer auf der Suche, aber wonach?»
«Burning Memories» beginnt mit berückenden Bildern der südafrikanischen Wüste. Flirrende Hitze, offener Horizont, Tiere, die sich bedächtig durch die Landschaft bewegen. Akkordeonklänge (gespielt von der Regisseurin selbst) mischen sich in die Szenerie, dann beginnt eine Stimme (Ulrike Valentiner-Branth) Alice Schmids Geschichte zu erzählen: Wie ein Gemälde, das ein Mädchen und einen grossen Schatten zeigt, die Erinnerung an den sexuellen Missbrauch wachgerufen hat. In der Wüste suchte sie Worte und Bilder für das Verdrängte. «Burning Memories» ist ein sehr persönlicher Film, dessen Bildsprache davon zeugt, wie sich die inneren und äusseren Bilder, die vergangenen Arbeiten und die gegenwärtigen Prozesse miteinander verschränken und zu einer vielschichtigen Erfahrungswelt zusammenwachsen.
«Dass die Bilder nicht da waren wie im Film, sondern beschrieben werden mussten, hat mir sehr geholfen; oft musste ich lachen, wenn ich eine Szene beschrieb – es war wie ein Geschenk.»
Bilder, die beschrieben werden
Warum die Geschichte also noch einmal erzählen? Und warum als Roman? Das habe, erzählt Alice Schmid, mit dem äusserst schmerzhaften Prozess zu tun, den die Arbeit an «Burning Memories» mit sich gebracht habe. «Die Dreharbeiten in der Wüste waren so schön, dass ich überhaupt nicht ahnen konnte, was danach in der Schweiz, beim Editing, geschehen würde. Plötzlich war der Schmerz überwältigend. Ich habe die ganze Zeit geweint.» Die Arbeit am autobiografisch gerahmten Roman hingegen sei eine befreiende Erfahrung gewesen. Der Text floss nur so aus ihr heraus. «Dass die Bilder nicht da waren wie im Film, sondern beschrieben werden mussten, hat mir sehr geholfen; oft musste ich lachen, wenn ich eine Szene beschrieb – es war wie ein Geschenk.» Eine dieser Szenen gehört zu den eindrücklichen Momenten im Roman. Lilly kommt nach ihrer Zeit in Belgien ans Lehrerseminar in Luzern. Da ein Instrument Pflicht war, zieht sie stolz mit ihrer Handorgel los – um eine furchtbare Demütigung zu erfahren:
«Wir mussten uns mit Namen und Herkunft vorstellen und sagen, weshalb wir den Lehrerberuf gewählt hatten.
– Lilly Beer. Entlebuch. Wegen der Musik, sagte ich.
– Sie müssen sich für ein richtiges Instrument entscheiden, sagte der Rektor mit Blick auf meine Handorgel.
Die Mittagspause verbrachte ich mit einem Käsebrot und einer Flasche Lindenblütentee am Ufer des Vierwaldstättersees. Ich rechnete aus, wie viele Stunden Heimarbeit Mutter brauchen würde, um mir ein richtiges Instrument zu kaufen.»
Alice Schmids Stoffe erinnern unter anderem an die autofiktionalen Texte von Annie Ernaux. Und tatsächlich hat sich die Autorin mit dem Werk der französischen Nobelpreisträgerin beschäftigt. «Ich habe die Bücher von Annie Ernaux gelesen und finde sie literarisch wunderbar, aber nach der Lektüre geht es mir immer schlecht.» Sie selbst möchte mit ihrem Schreiben ein anderes Gefühl auslösen: Befreiung. Anders als die Autorin selbst verdrängt Lilly den sexuellen Übergriff nicht und kann viel früher im Leben mit der Verarbeitung beginnen. Im Kinderheim in Belgien findet sie Freundschaft und Solidarität unter jungen Frauen, und es wird ihr klar, was der Schwimmlehrer mit ihr gemacht hat.
Jeden Tag eine Seite
«Die hängende Säge» ist Alice Schmids zweiter Roman; 2011 erschien, gleichzeitig mit dem grossartigen Dokumentarfilm «Die Kinder vom Napf», der Primarschüler:innen aus Romoos von ihrem Leben erzählen lässt, ganz ohne Kommentar und Bewertung durch Erwachsene, «Dreizehn ist meine Zahl», ein ebenfalls autobiografisch gefärbter Roman über eine Kindheit im Napfgebiet. Die Protagonistin heisst ebenfalls Lilly, und wenn es nicht dieselbe Lilly ist wie im aktuellen Roman, so sind die beiden doch sicher enge Schwestern. Wie der erste Roman zeichnet sich auch «Die hängende Säge» durch starke Bilder und einen musikalischen Rhythmus aus – es ist, also hörte man die Handorgel zwischen den Zeilen, mal perkussiv den Text vorantreibend, mal melancholisch die Sätze umspielend. Nie würde man darauf kommen, dass Alice Schmid lange Jahre um das Schreiben rang. «In der Schule schrieben alle anderen wie wild, doch ich konnte keine Aufsätze schreiben.» Später habe sie begonnen, überall auf der Welt Schreibkurse zu besuchen, um das Handwerk zu lernen. Einmal habe ein Workshopleiter sie aufgefordert, doch mit der linken Hand zu schreiben. «Das brachte den Durchbruch.» Die Konzentration aufs Handwerkliche half, und der Schreibfluss war nicht mehr zu stoppen. Seither schreibt Alice Schmid jeden Tag mindestens eine Seite in ihr Tagebuch, von Hand. Das nächste Projekt ist aber wieder ein Film. Doch darüber möchte sie noch nichts sagen, er muss noch in der Stille gären.
Das Buch «Die hängende Säge» von Alice Schmid ist im Februar 2024 beim Atlantis Verlag erschienen.