
01.09.25
Kunst
Kunst ohne Kontext
Das Kunstmuseum Luzern rekonstruiert eine Ausstellung von 1935 als «kritische Selbstreflexion der Institution und ihrer Geschichte». Was ausgerechnet fehlt, ist der historische Kontext.
Giulia Bernardi (Text)
Das Kunstmuseum Luzern wartet aktuell mit einem grossen Projekt auf. Unter dem Titel «Kandinsky, Picasso, Miró et al. zurück in Luzern» wird die Ausstellung «These, Antithese, Synthese» rekonstruiert, die 1935 im Kunstmuseum zu sehen war und der Stadt als «sagenhafte Meisterleistung» in Erinnerung blieb, wie es in einem der Wandtexte heisst. Eine Meisterleistung, weil «mitten in einem immer totalitärer werdenden Europa» Werke von Wassily Kandinsky oder Paul Klee ausgestellt wurden, die die Nazis jenseits der Schweizer Grenzen als «entartet» diffamiert hatten. Umso dringlicher schien das Versprechen der Moderne nach einer gleichberechtigten Gesellschaft, das in der damaligen Ausstellung vermittelt werden sollte.
Abgewertete Künstlerinnen und aufstrebende Künstler
Die aktuelle Ausstellung im Kunstmuseum Luzern soll aber weit mehr als blosse Wiederholung sein. Sie sei als «kritische Würdigung der Moderne» zu verstehen, heisst es gleich zu Beginn der Ausstellung. Etwa, indem für die Moderne prägende Erzählungen oder kuratorische Entscheidungen befragt werden, die damals von Hans Erni, Konrad Farner und Paul Hilber getroffen wurden. Diese Kritik gelingt der Ausstellung insofern, als sie die Geschlechterverhältnisse in den Fokus rückt: Unter den 24 künstlerischen Positionen war Sophie Taeuber-Arp die einzige Künstlerin. Dass sie nur berücksichtigt wurde, weil ihr Ehemann Hans Arp seine Teilnahme davon abhängig machte, spitzt die Ungleichheit weiter zu. Eine Woche vor der Vernissage schrieb Hans Erni an Paul Hilber, dass Künstlerinnen wie Sophie Taeuber-Arp «der Schau in jeder Hinsicht nur schaden könnten». Diese geschlechterspezifischen Machtverhältnisse – die Abwertung, die Künstlerinnen erfuhren, die Entscheidungen, die von einem männlichen Kuratorium getroffen wurden – werden im umfangreichen Ausstellungskatalog auch am Beispiel der Künstlerin Barbara Hepworth verdeutlicht, deren Werke, vorgeblich aus Platzgründen, abgelehnt wurden. Vorgeblich, weil die Kuratoren gleichzeitig Platz fanden für zwei Werke von Paul Cézanne und Vincent van Gogh, die ihnen vom Kunsthändler Siegfried Rosengart angeboten wurden. Interessant ist an dieser Stelle, dass der Kurator und damals aufstrebende Künstler Hans Erni neun seiner eigenen Werke in der Ausstellung integrierte – von insgesamt 99 Werken, die gezeigt wurden, sind das rund zehn Prozent. «Erni geht es mit dieser Ausstellung darum, sich selbst zu positionieren und in den weissen, männlichen, internationalen Kanon einzuschreiben», ordnet die Kuratorin Fanni Fetzer die Entscheidung im Ausstellungskatalog ein.
Die Ausstellung thematisiert die damaligen Geschlechterverhältnisse – und unterwandert sie ein Stück weit, indem sie Werke von Barbara Hepworth beizieht. Damit gelingt es ihr, das Versprechen der Moderne nach mehr Gleichberechtigung infrage zu stellen. Zumindest in der Ausstellung von 1935 ist die Kunst der Moderne nicht unbedingt als Beschleuniger gesellschaftlichen Umbruchs, sondern vielmehr als Spiegelbild gesellschaftlicher Verhältnisse zu begreifen.
Das Jahr 1935
Während der Versuch der «kritischen Würdigung der Moderne» zumindest in Bezug auf die Geschlechterverhältnisse schlüssig scheint, wirft die zeitgeschichtliche Einbettung Fragen auf. Obwohl die Ausstellung im Kontext des Nazismus und des aufziehenden Zweiten Weltkriegs verstanden werden will, wird der historische Kontext verzerrt dargestellt. Die Ausstellung konstruiert ein Bild, das die Schweiz – und in diesem Fall das Kunstmuseum Luzern – als sicheren Hafen, als «Auffangbecken» präsentiert. Ein Ort, an dem jene Kunst gezeigt werden konnte, die von den Nazis als «entartet» diffamiert wurde. «Die neutrale Schweiz, mitten in Europa gelegen, bietet Rechtssicherheit und politische Stabilität», verlautet einer der Wandtexte. Diese Darstellung überrascht, denn sie bemüht ein längst widerlegtes Geschichtsbild: Zutreffen mag sie nämlich nur für die Akteur:innen des Schweizer Kunstmarkts, die nicht von der NS-Verfolgungs- und -Enteignungspolitik betroffen waren, die über die Schweizer Staatsbürgerschaft verfügten, die nicht ausgeschafft oder an den Grenzen abgewiesen wurden. Wer damals zum Beispiel über Rechtssicherheit verfügte, war der Galerist Theodor Fischer. In Luzern handelte er mit NS-verfolgungsbedingt entzogenen Kulturgütern und organisierte 1939 die Auktion «Entartete Kunst» im Auftrag der Nazis. Der Journalist Hans Stutz wies bereits Ende der 1990er-Jahre auf die Praxis der Nationalsozialisten hin, «das gestohlene Gut in neutralen Ländern in Sicherheit zu bringen», wo es auf dem vermeintlich freien Kunstmarkt gehandelt werden konnte.
Die historische Kontextualisierung wurde auch an einer Podiumsdiskussion im Rahmen der Schweizerischen Geschichtstage bemängelt. Der Historiker Raphael Gross wies darauf hin, dass 1935 die «Nürnberger Gesetze» verabschiedet wurden – was in der Ausstellung nicht erwähnt wird. Ebenfalls auf dem Podium vertreten war der Historiker Erich Keller, der die vermeintliche Neutralität der Schweiz und des Kunstmuseums Luzern thematisierte: Im Kunst- und Kongresshaus, also in jenem Gebäude, in dem sich auch das Kunstmuseum befand, wurden ab 1934 regelmässig Veranstaltungen der Auslandorganisation der NSDAP abgehalten. Der letzte Anlass fand 1943 statt – eine «Heldengedenkfeier» mitten in der Shoa. Auch darauf hatte bereits Hans Stutz aufmerksam gemacht. Warum also nicht auf dieses Wissen zurückgreifen?
Das Politische im Museum
Die Ausstellung im Kunstmuseum Luzern will sich politisch verortet zeigen – indem sie etwa Fragen der Repräsentation und institutionelle Machtverhältnisse thematisiert. Damit verdeutlicht sie, dass das Politische sehr wohl Einzug in die musealen Räume hält. So scheint es wenig nachvollziehbar, dass der historische Kontext von 1935 verzerrt und die Verantwortung kleingeredet wird, die heute daraus resultiert. Insbesondere, wenn die Ausstellung das Ziel verfolgt, eine «kritische Selbstreflexion der Institution und ihrer Geschichte» zu sein.
Sammlung Rosengart
Am 24. September 2025 findet im Kunstmuseum Luzern die Veranstaltung «Luzern 1935: Kunstmarkt und Museumspolitik» statt. Die Veranstaltung wird gemeinsam mit der Sammlung Rosengart ausgerichtet, die 2022 angekündigt hatte, die Provenienz von rund zwei Dutzend der über 300 Werke zu überprüfen, wie im März 2022 in der «Luzerner Zeitung» stand. Zum Stand der Provenienzforschung hat sich die Stiftung Rosengart bisher nicht öffentlich geäussert. Die Veranstaltung bietet Gelegenheit, die Rolle dieser Institutionen auf dem Schweizer und dem Luzerner Kunstmarkt zu thematisieren: In welchem Umfang sind NS-verfolgungsbedingt entzogene Kulturgüter im Kunstmuseum Luzern und in der Sammlung Rosengart enthalten? Welche Verantwortung resultiert daraus für die jeweilige Museumspolitik?
Korrigendum vom 17. September: Im ursprünglichen Artikel stand, dass die Veranstaltungen der Auslandorganisation der NSDAP im Kunstmuseum Luzern stattfanden. Das ist nicht korrekt. Die Veranstaltungen fanden im Kunst- und Kongresshaus statt, in dem sich auch das Kunstmuseum Luzern befand. Die Stellen wurden entsprechend angepasst.








