
06.01.25
Ernten, was wir säen
Ohne Saatgut könnten Menschen nicht überleben. Doch der Zugang dazu ist bedroht, neue Wege sind gefragt – sagt Alexandra Baumgartner, Initiantin der Audio-Documentary «Seed Carriers».
Christoph Keller (Interview)
Zu dritt habt ihr die Audio-Documentary «Seed Carriers» produziert. Woher kam das Interesse für das Saatgut als Thema einer künstlerischen Auseinandersetzung?
Für jede von uns kam dies aus einer anderen Perspektive. Ich hatte zum Thema zunächst einen fotografischen Zugang. Da wurde mir klar, wie wichtig Saat und Saatgut für unser Überleben sind. Dabei habe ich auch Menschen kennengelernt, die sich dafür engagieren, Sorten zu schützen. Kim Schelbert hat sich der Frage mit einem politischen Blick genähert. Sie hat sich dafür interessiert, wie die Agrarkonzerne ihre Macht ausnützen. Anna Froelicher wiederum hat während der Coronapandemie auf einem Biohof gearbeitet, da waren Samen und Saatgut natürlich präsent. Sie hat dort Menschen getroffen, die kaum je gehört werden, die aber für die Wahrung der Biodiversität wichtige Arbeit leisten.
Warum habt ihr euer Projekt als Audiostück umgesetzt?
Uns hat interessiert, wie etwas hörbar gemacht werden kann, das eigentlich nicht klingt. Wie kann man zeigen, wie gefährdet der Saatgutsektor ist, aber auch, welche innovativen, neuen Ansätze für die Konservierung und Weiterzüchtung von Saatgut existieren? Es war uns wichtig, die Neugier zu wecken bei den Menschen, ihnen zu sagen, hey, du kannst auch selber experimentieren mit Samen. Egal, ob in deinem Garten oder auf deinem Balkon.
Das alles hören wir in drei sehr aufwändig gemachten Episoden – was hat euch angetrieben, diesen Aufwand zu leisten?
Wir lieben Audio, wir lieben Musik und Soundscapes, deshalb haben wir viel investiert. Und klar, wir wissen, dass es nicht wirtschaftlich ist, so viel Zeit damit zu verbringen. Aber wir haben versucht, mit diesem Projekt möglichst viele Aspekte transdisziplinär zu gestalten und ein Thema zu bearbeiten, das uns fasziniert. Wir denken auch, dass wir heute von Menschen hören müssen, die eine lebenswerte Welt schaffen und den Status quo herausfordern. Saatgut zu produzieren, ist eine visionäre Tätigkeit. Man denkt ja immerzu an die Zukunft. Und unsere Zukunft wird letztlich von den Anbauweisen und Ernährungssystemen bestimmt, die wir heute wählen.
In «Seed Carriers» probiert ihr neue Erzählweisen aus. Was hat euch daran interessiert?
Ja, wir haben uns lange damit beschäftigt, welche Erzählstruktur angemessen ist für unsere Fragestellung. Wenn wir erzählen, wie Menschen auf traditionelle Art Samen züchten, dann hat das viel zu tun mit Traditionen, mit Teilen, auch mit oral tradiertem Wissen. Deshalb haben wir einen Zugang gewählt, der einerseits mit herkömmlichen Erzählmustern bricht, andererseits wollten wir auch einen feministischen Ansatz einbringen. Dabei war die «Carrier bag theory of fiction» von Ursula K. Le Guin eine wichtige Quelle der Inspiration. Sie plädiert dafür, dass wir wegkommen von diesen Heldenerzählungen, von dieser männlichen Perspektive des Jägers.
Es ging also auch ums Sammeln von Geschichten?
Ganz sicher, deshalb taucht in den Episoden immer wieder eine fiktive Figur auf. Manchmal ist sie ein Plastikbecher, manchmal ist es ein Beutel, manchmal eine Tüte. Als Gefäss sammelt und konserviert sie die Geschichten, transportiert sie, bringt sie weiter.
Gleichzeitig musstet ihr aber auch wissenschaftliche Fakten vermitteln. Wie seid ihr damit umgegangen?
Wir haben darüber viel diskutiert und alles immer wieder hin und her geschoben. Das war ein langer Prozess, auch beim Schnitt. Wir haben bei allen Expert:innen versucht, genau hinzuhören und dann zu klären, welche Informationen nun wirklich wichtig sind, ohne dass wir wissenschaftliche Expert:innen irgendwie ausklammern und ohne die Komplexität des Themas allzu sehr herunterzubrechen.
«In den Kühlschränken der Saatgutbanken lagern tausende Sorten, aber angebaut werden nur die wenigen, die besonders ertragreich sind und für die hoch industrialisierte Landwirtschaft entwickelt wurden.»
Die Frage, wer Saatgut besitzt, ist ein politisches Thema. Dies zu betonen, ist euch wichtig. Weshalb?
Weil wir verstehen müssen, dass jede Tasse Kaffee, die wir trinken, jedes Brot, das wir essen, dass alles von diesen kleinen, unscheinbaren Samen abhängt. Deshalb spielen hier so viele Interessen mit hinein. Beim Saatgut kontrollieren heute noch vier grosse Agrochemiekonzerne bis zu 70 Prozent des Saatgutmarktes. Das ist eine krasse Machtkonzentration. Daneben gibt es aber auch Strukturen und Menschen, die sich bemühen, Saatgut als ein gemeinschaftliches Gut zu bewahren. Dabei kämpfen sie um die Bewahrung der Biodiversität. Je kleiner diese ist, desto weniger sind wir für die Herausforderungen der Zukunft gewappnet, vor allem für die Klimakrise.
Um das aufzuzeigen, nehmt ihr uns mit auf einen Hof in Ungarn. Warum Ungarn?
Wir haben «Magház», das ungarische Netzwerk von Saatguterhalter:innen und Landwirt:innen, bei einer Recherchereise kennengelernt. Der Landwirt József Hegyesi ist Teil dieses Netzwerks. Uns war es wichtig, auch internationale Netzwerke vorzustellen, gerade auch etwas abseits vom Zentrum Europas. Uns fasziniert die Arbeit von József Hegyesi, weil bei «Magház» alles dezentral organisiert ist und dort unterschiedlichste Menschen zusammenkommen: Gärtner:innen, Kleinbäuer:innen, grössere Betriebe. Sie züchten Saatgut, tauschen, geben es weiter, und sie tun das unentgeltlich.
Wichtig sind auch Saatgutbanken, die ihr besucht habt.
Diese Saatgutbanken sind hochtechnologische Orte. Sie arbeiten, anders als Konzerne, im Auftrag der Öffentlichkeit. Ihr Auftrag ist es, die genetische Vielfalt der Pflanzen eines Landes zu bewahren. Sie bedienen sowohl die Industrie wie auch die Landwirtschaft. Sie haben auch eine wichtige Funktion als Absicherung. Wenn zum Beispiel eine Krankheit auftritt bei einer Kultur, dann können Züchter:innen auf andere, gesunde Sorten zurückgreifen. Aber Saatgutbanken haben keinen Einfluss darauf, welche Sorten in der Landwirtschaft verwendet werden. Das ist ein Problem: In den Kühlschränken der Saatgutbanken lagern tausende Sorten, aber angebaut werden nur die wenigen, die besonders ertragreich sind und für die hoch industrialisierte Landwirtschaft entwickelt wurden. Damit ist der Biodiversität nicht gedient.
Ihr zeigt auf, dass das, was wir anbauen und essen, immer das Ergebnis eines langen Selektionsverfahrens ist.
Viele tausend kleine Schritte haben zur Karotte geführt. Ein Prozess, der von Natur und Kultur gleichermassen geprägt ist: Da waren Menschen, die satt werden wollten, und die Vorlieben für bestimmte Geschmäcker, Farben und Formen hatten. Bei der Auslese haben aber auch Tiere, Wetterbedingungen oder eine bestimmte Bodenbeschaffenheit mitgemischt. Mit «Seed Carriers» versuchen wir, diese Domestizierungsprozesse erfahrbar zu machen.
Wie geht es nun weiter mit dem Projekt?
Wir haben unglaublich viel gelernt, jetzt möchten wir unsere Schlüsse aus der bisherigen Arbeit ziehen. Wie es weitergeht, wissen wir noch nicht, aber wir sind auf jeden Fall offen für Kollaborationen. Und ganz wichtig wäre uns, dass wir unsere Hörstücke auch öffentlich aufführen könnten. Einfach auch, um noch mehr Menschen mit diesem Thema zu erreichen und zu aktivieren.
Das Kollektiv «Seed Carriers» besteht aus:
Alexandra Baumgartner, multidisziplinäre Künstlerin, die Fotografie, Sound und partizipative Formate miteinander verbindet. Anna Froelicher, Künstlerin, Regisseurin und Dramaturgin in den Bereichen Performance, Sound und Text. Kim Schelbert, ehemalige Geschäftsleiterin bei Radio 3fach, Journalistin und seit 2023 in der Abteilung Umweltschutz der Stadt Luzern tätig.