30.09.24
Literatur
Das glaubwürdige Ich
Ein behutsamer Blick und die Freude an kuriosen Anekdoten: Tabea Steiners Essayband durchstreift persönliche Themen, ohne den Fokus auf sich zu legen.
Robyn Muffler (Interview) und Markus Forte (Bild)
Tabea Steiner, nach zwei Romanen liegt nun ein Essayband vor. Was reizt Sie am essayistischen Schreiben?
Die Form des Essays macht mir grossen Spass, weil man sich darin mit allen möglichen Themen beschäftigen kann. «Essayer» heisst versuchen, ausprobieren, und für mich ist es tatsächlich so, dass sich die kleine Form dazu mehr anbietet als ein Roman. Ich hatte Lust auf dieses verspielte Schreiben, worin ich anders nach Denkmöglichkeiten suchen kann.
Die Texte in Ihrem Essayband «Heidi kann brauchen, was sie gelernt hat» führen die Leser:innen von Tierbeobachtungen über Kindheitserzählungen bis hin zu einer Reise nach Armenien. Gibt es einen roten Faden, der diese Texte verbindet?
Die im Band versammelten Texte sind unabhängig voneinander und über mehrere Jahre entstanden, das ist sicher ein Grund, weshalb das Spektrum an Themen und Stilformen darin sehr breit ist. Ich glaube aber, dass sich die Texte gegenseitig etwas zu sagen haben, und manchmal spielen sie auch miteinander. Am Anfang jeder Erzählung stand ein Bild, eine Erinnerung oder ein Gedanke, der mich manchmal über Jahre nicht mehr losliess.
In Ihren Texten geht es um koloniale und sexualisierte Gewalt, um historisches Unrecht, um die Klimakatastrophe, aber auch um persönliche Trauer und Verluste. Ist Ihr Schreiben politisch?
Ja. Das bedeutet aber nicht, dass ich mich an einen Text setze mit einem fertigen politischen Programm. Erzählen ist mit so vielen Entscheidungen verbunden: Welche Figuren, welche Liebesgeschichten, welche Verhältnisse zeige ich, welche Perspektiven nehme ich ein? Als Frau würde ich mich beispielsweise nicht dafür entscheiden, ein Buch aus der Perspektive eines Mannes zu schreiben. Nicht, dass ich das grundsätzlich ausschliesse, aber ich würde sehr genau abwägen, warum ich das tun sollte. Selbst beim Schreiben meines zweiten Buches [«Immer zwei und zwei», Anm. d. Red.], das von einer Liebesbeziehung zwischen zwei Frauen handelt, habe ich lange darüber nachgedacht, warum es genau diese Konstellation sein muss. Als ich schliesslich für mich die Antwort gefunden hatte, wusste ich, dass es richtig war, es so zu machen.
Wie lautete diese Antwort?
In «Immer zwei und zwei» geht es um eine Frau, die Mitglied in einer Freikirche ist und sich in eine andere Frau verliebt. In ihrem Umfeld wird das vorerst kaum wahr-, geschweige denn ernst genommen. Und darin liegt eine Form der Misogynie, indem weibliche Sexualität viel weniger ernst genommen wird. Das ist etwas Spezifisches in diesem soziologischen Umfeld, und das wollte ich damit zeigen.
«Als Frau würde ich mich beispielsweise nicht dafür entscheiden, ein Buch aus der Perspektive eines Mannes zu schreiben. Nicht, dass ich das grundsätzlich ausschliesse, aber ich würde sehr genau abwägen, warum ich das tun sollte.»
«Was fehlt» ist ein berührender Essay über einen unerfüllten Kinderwunsch. Ist das Private politisch?
In der Politik werden Entscheidungen getroffen, die den privaten Alltag mitbestimmen. Dass ich kein Kind kriegen kann, aber gerne eins hätte, ist das private Thema, das in dieser Geschichte steckt. Mir geht es aber nicht um die Auseinandersetzung mit mir selbst, sondern um die Frage, wie sich anders als über Fruchtbarkeitskategorien über das Thema nachdenken lässt. In Gesprächen über Mutterschaft liegt der Fokus stark auf dem weiblichen, fruchtbaren Körper, und das empfinde ich als äusserst sexistisch. Ich verstehe Mutterschaft viel umfassender, und zwar als die Sorge um kommende Generationen, als Nachdenken über die Frage, was wir als Gesellschaft geerbt haben und weitergeben, als kollektive Verantwortung, und in diesem Sinn als politischen Akt. Und insofern ist das Konzept, wie ich es derzeit betrachte, auch keineswegs an die Kategorie Geschlecht gebunden.
Der Essay «Social Freezing» handelt wiederum von einer Krebserkrankung in der Familie, von der Krankheit des Vaters und der eigenen Unfruchtbarkeit. Handelt es sich bei dieser persönlichen Geschichte um Ihre eigene?
Bei manchen Themen war mir klar, dass es meine Geschichte sein muss, die ich als Tabea Steiner erzähle – und auch erzählen sollte. Andernfalls wäre das eine unangemessene Aneignung. Mir ist es wichtig, dass das «Ich», das sich in meinen Texten zu Wort meldet, ein glaubwürdiges literarisches «Ich» ist. In manchen Fällen bin ich tatsächlich die erzählende Person, während in anderen das «Ich» fiktiv ist und eher als Romanfigur betrachtet werden kann. Zum Beispiel bei der Grossmutter in «Streuobst». Diese Figur ist überhaupt nicht meine eigene Grossmutter – auch wenn die Erinnerung an sie diesen Text stark beeinflusst hat.
Autofiktion liegt im Trend. Was ist der Grund für die Renaissance der Ich-Erzählung, die wir gegenwärtig in der Literatur, aber auch in anderen erzählenden Medien erleben?
Die Nobelpreisverleihung 2022 an die französische Autorin Annie Ernaux hat dieser Form des Schreibens sicher einen bedeutenden Schub verliehen. Der Umgang mit Autofiktion ist heute unverfrorener und ehrlicher geworden, das hat auch etwas Erfrischendes. Und ich glaube, dass diese Entwicklung auch mit der Verbreitung von Social Media einhergeht. Autofiktion ist daher kein neuer Trend, Autor:innen bekennen sich heute einfach aufrichtiger dazu. Sie sind offener, was den Ursprung ihres Materials betrifft, und teilen, warum sie über ein bestimmtes Thema schreiben. Tatsächlich gehört zu den häufigsten Fragen bei Lesungen: Ist das autobiografisch? Haben Sie das selber erlebt? Das ist etwas, was die Leute sehr interessiert, und das ist auch legitim.
«So funktioniert auch mein Schreiben: Der Blick auf eine Schreibarbeit verändert sich durch das Lesen anderer Texte.»
Auch Kameras scheinen in Ihren Essays wichtig zu sein. Die Kamera hält fest: sowohl zärtlich, um Verluste zu betrauern, als auch aufmerksam, um den Blick zu schärfen. Dann wieder wird sie zum gewaltvollen Apparat, der das Motiv zum Objekt werden lässt. Letzteren Aspekt thematisiert zum Beispiel der Text «Lichtbilder», der von den Dia-Vorträgen einiger Missionare erzählt, die auf Urlaub im Heimatdorf sind.
Ich bin in einer freikirchlichen Gemeinschaft aufgewachsen, die in Papua-Neuguinea einen Missionszweig hatte. Diese Missionare sind jeweils im «Urlaub» in die Gottesdienste gekommen, um von ihrer Arbeit zu erzählen. Sie erzählten von den Schulkindern, vom Alltag, aber beispielsweise auch, wie die Indigenen ein Weihnachtsessen zubereiten, oder davon, dass sich viele Menschen dort angeblich vor dem Fotoapparat fürchteten, weil sie glaubten, der Apparat entführe ihre Seele. Auf den Bildern, die sie uns zeigten, waren kaum weisse Menschen zu sehen, obwohl es sie waren, die ihre Sicht auf das Leben in Papua Neuguinea schilderten. Diese Dias sind ein Ausdruck dieser einseitigen Perspektive, und darin liegt eine Hierarchisierung.
In diesem Text kommt vieles zusammen: das Nachdenken über Fotografie, über Kolonialismus und darüber, was es bedeutet, anderen gebrauchte Kleider zu schenken. Es geht um ein genaues Hinschauen und die Entscheidungen, die man dabei trifft – und wie dieses Schauen wiederum beeinflusst werden kann durch Medien, wie beispielsweise durch solche Dia-Vorträge.
In Ihren Essays sind Gedanken zahlreicher Schriftsteller:innen zu finden. Darunter jene von Kerstin Preiwuß, Sheila Heti, Monika Helfer oder auch Walter Benjamin und Susan Sontag, um nur einige zu nennen. Schreiben Sie lesend und lesen Sie schreibend?
Für mich ist das Lesen der wichtigste Teil des Schreibens. Ich umgebe mich beim Schreiben auch physisch mit Büchern, ich mag ihre Anwesenheit. Als ich begonnen habe, über das Thema Mutterschaft nachzudenken, habe ich plötzlich überall Hinweise darauf gefunden, so etwa im Buch «Heute ist mitten in der Nacht» von Kerstin Preiwuß. In ihrem Text geht es unter anderem um Verlustangst. Auch wenn meine eigenen Fragen andere waren, waren ihre wichtig für mich, um herauszufinden, wohin mein Text führt. Ich brauche das Denken und die Texte von anderen, um zu merken: «Jetzt weiss ich, worum es geht.»
Die Zahl der weiblichen Autorinnen in Ihrem Lese-Kanon fällt auf. Wie wichtig ist es Ihnen, wen Sie lesen?
Mir war früher sehr wichtig, mindestens zur Hälfte Bücher von Frauen zu lesen. Inzwischen nehme ich mir das nicht mehr aktiv vor, ich treffe die Wahl anhand von anderen Kriterien wie Sprache oder Form, oder wie auf ein Thema zugegriffen wird. Interessanterweise sind das mehrheitlich Bücher von Frauen. Ihr literarischer Blick, gerade von älteren Frauen, interessiert mich sehr. Aktuell lese ich den Erzählband «Vom Aufstehen» von Helga Schubert, der mich echt beeindruckt.
Was hat es mit dem Titel «Heidi kann brauchen, was sie gelernt hat» auf sich?
Im Frühling sass ich mit zwei Freundinnen zusammen, eine von ihnen war ebenfalls auf der Suche nach einem Titel für ihren Roman. Irgendwann sind wir die Titel der einzelnen Essays durchgegangen und ich habe aus Spass gemeint: Das wär’s doch! Wir haben einfach gelacht. Dann aber dachte ich mir: Warum lachen wir? Der Titel spricht uns an, ist lustig, und er erzählt auch etwas. Denn Heidi hat in Frankfurt Lesen und Schreiben gelernt. Diese neuen Kulturtechniken, verbunden mit dem Aufenthalt in der «Fremde», haben ihr einen neuen Blick auf den idyllischen Ort ihrer Kindheit ermöglicht. So funktioniert auch mein Schreiben: der Blick auf eine Schreibarbeit verändert sich durch das Lesen anderer Texte, dadurch, dass man immer wieder auf Distanz dazu geht, und nicht zuletzt durch die Zeit. Und der Titel ist auch ein Gruss an Heidis Unangepasstheit.
Tabea Steiner ist Literaturvermittlerin, organisiert Festivals und Veranstaltungen. Ihr erster Roman «Balg» wurde 2019 für den Schweizer Buchpreis nominiert. Im Frühjahr 2023 kam der zweite Roman «Immer zwei und zwei» heraus.
Das Buch «Heidi kann brauchen, was sie gelernt hat» von Tabea Steiner ist 2024 beim Verlag Edition Bücherlese erschienen.