
01.09.24
Literatur
Wie geht es den Steinen
Drei Figuren, die nichts und doch vieles miteinander zu tun haben. In ihrem Romandebüt schreibt die in der Zentralschweiz geborene Autorin Mariann Bühler vom Leben und von Veränderungen, die ganze Berge versetzen könnten.
Gianna Molinari (Text) und Line Rime (Illustration)
Es sind keine Unbekannten. Der Erzählerin, Alois, Elisabeth, Ruth, auch der Schwester von Alois bin ich schon begegnet, und dem Hund habe ich zugeschaut, wie er um Beine strich. Als Mariann Bühler in Loco, Basel, Zürich über ihre Figuren erzählte, eine Stelle vorlas, als ich später eine ältere Fassung des Textes zu Teilen las, lernte ich diese Figuren und ihre Landschaften kennen.
Und die Steine? Wie geht es den Steinen?, frage ich Mariann Bühler, wenn ich mich über ihr Schreiben erkundige.
Und jetzt also das fertige Buch: Verschiebung im Gestein. Und ich durchschreite Landschaften dicht bei den Figuren, zweihundertacht Seiten lang, folge den drei Erzählsträngen, den Geschichten, die sich durch die Generationen, Familien, durch Täler und Zimmer ziehen.
Da ist Alois, der den Hof seiner Eltern nach deren Tod übernommen hat, der seine Arbeit liebt, die Tiere, der sich vielleicht nach weniger Einsamkeit sehnt, der Ruth in sein Leben lässt, sich verliebt, zusieht, wie sie den Hof wieder verlässt, der sich nach einem Ich-Sein ausserhalb des Hofes sehnt, den Hof abgibt und sich aufmacht.
Da ist Elisabeth, die Jakob schon lange kennt, die nach der Schule einen Sommer mit Marlies auf einer Alpwirtschaft verbringt, bald nach diesem Sommer von Jakob schwanger wird, Ruth zur Welt bringt und dann lange in Jakobs Schatten, der die Dorfbäckerei führte, ihr eigenes Leben führt, bis sie nach Jakobs Tod die Bäckerei übernimmt und auch die Freundschaft mit Marlies wieder Einzug hält.
Da ist Ruth, die Tochter von Elisabeth und Jakob, die geht, sobald sie kann, auf Reisen, die nicht an die Beerdigung des Vaters kommt, aber dennoch zurückkehrt, bei Alois einzieht, dort mit ihm ein Leben beginnt, von dem sie sich wieder löst, um erneut neu anzusetzen.
Und da ist die Erzählerin, die in der Du-Form spricht, und die – wie alle Figuren – inmitten eines Umbruchs ist, dabei ist, eine lebbare Nähe und Distanz zu ihrer Familie zu finden, Ereignisse aus der Vergangenheit einzuordnen, überhaupt sich zu ordnen versucht und dafür in das alte Ferienhaus ihrer Grosseltern im Tessin reist, dort in der Kindheit und in restlichen Vergangenheiten kramt, eine Trauer und eine Einsamkeit zu verstehen lernt, die Teil von ihr ist.
Alle Figuren in diesem Buch finden sich neu, suchen nach einem Ausstieg oder vielmehr nach einem Einstieg. Versuchen das Weiterleben nach einem Tod, nach einer Trennung, nach einer Entscheidung, Schritt für Schritt, Teig für Teig. Alle wagen sie mit viel Mut den Abschied und Aufbruch. Dabei sind es gar nicht nur Ereignisse von aussen, die zu diesen Schritten führen, sondern vielmehr langanhaltende innere Prozesse. Da ist ein Selbstbewusstsein aller Figuren, ein Sich-sich-selber-bewusst-sein, das nach und nach, langsam, schleichend zu einem Selbstvertrauen heranwächst, das allen Figuren die Kraft und den Mut gibt, dass sie etwas oder sich in Bewegung setzen.
Die Figuren sind ganz und gar, vielleicht weil sie hadern, zweifeln, ihr Unvermögen und ihre Verletztheit gezeigt werden. Vielleicht weil es Figuren sind, die anderen Figuren die Tür aufhalten, im richtigen Moment füreinander kochen oder Kaffee machen. Vielleicht weil wir ihnen auf die Hände schauen, bei ihren Arbeiten, beim Melken, beim Brotbacken, beim Holzen jede Bewegung mitverfolgen.
Der Text führt einen in eine grosse Nähe zu diesen Figuren. Überhaupt begleitet die Frage nach Nähe und Distanz wie ein Untergrundrauschen den ganzen Text. Wie sehr kann man Teil von etwas sein? Wie sehr ist man allein? Wie sehr ist man vielleicht Teil von etwas und verliert sich dabei ganz, weil man wie Alois beispielsweise an einen Hof so sehr gebunden ist, dass man nicht mehr weiss, wer man ausserhalb des Hofes wäre? Oder wenn man aus langjährig und sorgfältig aufgebauten Familienkonstrukten, die auch von Gewalt und Macht gezeichnet sind, ausbricht, wie Elisabeth dies tut?
Was den Figuren vielleicht weiter gemein ist, ist die Erfahrung von Enge, und dass sie zwar nicht dieselbe, aber eine Art von Traurigkeit in sich tragen. Diese lose Verbundenheit zeigt sich auch in der Textstruktur, die drei Erzählstränge laufen parallel, und doch sind da feine Verbindungen. Die Figuren kreuzen sich, mal treffen sich zwei Figuren in einem Strang, wechseln Worte oder geben sich die Hand, mal drückt die eine Figur im einen Strang die Klinke der verschlossenen Tür und im anderen Strang hört die andere Figur, wie jemand die Klinke drückt.
Und wie die alte Wanderkarte des Grossvaters der Erzählerin, die an den Faltstellen durchlöchert und also voller Fehlendem ist, ist auch der Text eine Landschaft, die mal sehr deutliche Wege, dann kaum wahrnehmbare Verzweigungen und auch Leerstellen bereithält. Einer Wanderin gleich durchstreifte ich dieses Buch. Ich hatte nur wenig Proviant gegessen, ich kam nicht dazu, so schnell habe ich gelesen, in einem Zug, und das Essen und Trinken dabei vergessen.
«Verschiebung im Gestein» ist ein Text über Freundschaft, Zuneigung, das Finden des eigenen Mutes. Es ist ein Text über das Schweigen und das Nicht-Gesagte, über das Verpassen und Trauer und Einsamkeit. Ein Text über Arbeit und Arbeitsorte, über das Abhandenkommen, das Wegbleiben, das Weitergehen.
Es ist ein Text, bei dem ich immer wieder denke, dass es schon gut ist, Steine zu lieben, und es ist ein Text, der mir zeigt, dass Literatur Welten eröffnen kann und der mir in diesen Welten Gastrecht gewährt über das Ende der Lektüre hinaus.
Und die Steine? Wie geht es den Steinen? Sie sind in Bewegung, und wie.