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Bild von Isabelle Kaiser, Sammlung Ermitage

06.11.23

Literatur

Aus dem Schatten

Isabelle Kaiser war zu ihrer Zeit eine populäre Schweizer Schriftstellerin, geriet nach ihrem Tod jedoch in Vergessenheit. Nun hat es sich die Journalistin Jana Avanzini als Herausgeberin eines Buchs zum Ziel gesetzt, das Werk von Kaiser einer neuen Leser:innenschaft zugänglich zu machen.

Anna Chudozilov (Text)

«Das Leben von Isabelle Kaiser beginnt und endet im beschaulichen Beckenried am Vierwaldstättersee.» Mit diesen Worten leitet Jana Avanzini ihr Essay über die 1866 geborene Autorin ein. Das Leben dazwischen ist allerdings alles andere als beschaulich. Kaiser publiziert bis zu ihrem Tod 1925 ein beachtliches Werk, schreibt sowohl auf Französisch wie auch auf Deutsch und veröffentlicht Erzählungen, Lyrik und Romane. «Kaiser war um die Jahrhundertwende die berühmteste Schweizerin», ordnet Avanzini die Bedeutung der Autorin ein. Im Laufe ihrer Karriere sei sie mit Preisen überhäuft worden: Im Alter von 20 Jahren wurde sie zum Titularmitglied der Akademie von Marseille und der Akademie von Montreal ernannt, mit ihrem Gedicht «L’ombre» gewann sie den ersten Preis der Académie Littéraire de la France – in der Jury sass damals unter anderem Émile Zola.

STÜRMISCHER BEIFALL IN AUSVERKAUFTEN HALLEN

Isabelle Kaiser konnte nicht nur schreiben, sie verstand es auch, ihr Publikum zu begeistern. Davon zeugt etwa die Ankündigung des Schriftstellers Jakob Christoph Heer, der sie im Vorfeld einer Lesung in Konstanz vorstellte: «Was in ihren Büchern vielleicht nur wie ein schlichtes Tannengrün und Waldesdunkel anmutet, das wird unter der elektrischen, zündenden Kraft ihres Vortrags ein märchenprächtiger, lichterleuchtender Weihnachtswald.» Phasenweise sei Kaiser innerhalb von 20 Tagen in zehn verschiedenen Städten aufgetreten, habe Säle mit über 600 Personen gefüllt, erzählt Jana Avanzini und verweist auf verschiedene Publikationen. «Bis auf das letzte Plätzchen ausverkauft» waren die Veranstaltungen, von «andächtiger Stille» und «stürmischem Beifall» war die Rede. Davon, dass selbst «die hochgespanntesten Erwartungen übertroffen» wurden, wenn sie mit ihrem «prachtvollen, sonoren Organ» auftrat. Und doch geriet ihr Werk nach ihrem Tod in Vergessenheit.

Was auf den ersten Blick unverständlich scheinen mag, entspricht einem typischen Muster, wenn man auf sogenannte «Frauenliteratur» blickt. In ihrem gleichnamigen Buch aus dem Jahr 2021 postulierte die Literaturwissenschaftlerin Nicole Seifert bereits im Untertitel, dass «Frauenliteratur» zunächst abgewertet und dann vergessen werde. «Auch Kaiser wurden von mehreren Literaturkritikern öffentlich Können und Relevanz abgesprochen», erläutert Avanzini. Ein (wenn auch spätes) Beispiel dafür ist die Kritik des Schriftstellers Charles Linsmayer. In seinem «Autorenlexikon» (sic!) schreibt er über Kaiser als «eingehüllt in ein antikisierendes weisses Schleppgewand, die rabenschwarzen Schmachtlocken wild über das leidgeprüfte, ernsteGesicht verteilt». Das ist nicht die einzige Stelle im literarischen Porträt, das ihr Auftreten auf despektierliche Art und Weise schildert, anstatt entlang ihrer Texte zu argumentieren. Geht es dann doch mal um ihr Werk, wirft Linsmayer ihr «unaufhörliche Gefühlsausbrüche» vor und vertritt die Ansicht, Kaiser habe «eine zu grosse Bürde auf sich genommen, als sie trotz eher dürftiger Bildungsvoraussetzungen in zwei Sprachen gleichzeitig reüssieren wollte» – wohlgemerkt, ohne zu konkretisieren, wie das ihrem Werk geschadet hat.

In den 1940er- und 1950er-Jahren gehörten die Werke von Kaiser – etwa in Zug, wo sie viele Jahre lebte – zwar noch zum Pflichtstoff an verschiedenen Schulen. Doch ihre Bücher wurden nicht mehr neu aufgelegt, und was in Antiquariaten noch greifbar bleibt, ist in aller Regel in Fraktur gedruckt. Das jedenfalls stellte Avanzini fest, als sie sich 2017 mit Kaiser zu beschäftigen begann. Es ist eine musikalisch-literarische Soiree in der Beckenrieder Ermitage, die Avanzini auf die Spur bringt. 

Avanzini, hauptberuflich als Journalistin tätig, beginnt für mögliche Artikel rund um die einst berühmte Nidwaldnerin zu recherchieren. Unter anderem kontaktiert sie Zentralschweizer Schulen und stellte fest, dass Lehrer:innen Kaiser kaum kannten – aber durchaus Interesse haben, die Schriftstellerin in ihren Unterricht miteinzubeziehen.

Jana Avanzini merkte, dass sie keine Lust hatte zu warten, bis jemand die Autorin aus der Versenkung holt und nahm sich kurzerhand selbst dieser Aufgabe an.

Anna Chudozilov

AN DER SCHWELLE ZUR MODERNE

Vor zwei Jahren las Jana Avanzini dann Seiferts Buch «Frauenliteratur». Neben viel Kritik am Umgang mit Schriftstellerinnen und ihrem Werk benennt Nicole Seifert darin auch Handlungsspielräume: «Die gute Nachricht lautet: Weil Bücher von Autorinnen aus der Literaturgeschichte ausgeschlossen wurden, gibt es in der Vergangenheit unglaublich viel zu entdecken.» Avanzini merkte, dass sie keine Lust hatte zu warten, bis jemand die Autorin aus der Versenkung holt und nahm sich kurzerhand selbst dieser Aufgabe an.

Zunächst las sich Avanzini durch das Werk, recherchierte im Schweizerischen Literaturarchiv in Bern und sichtete Unterlagen in der Beckenrieder Ermitage. Sie stellte zudem eine Finanzierung des Projekts auf die Beine und machte sich auf Verlagssuche. Bei Pro Libro erscheint nun im November das Buch, das eine Reihe von Novellen und Gedichten Kaisers versammelt. Schliesslich hat Avanzini noch Philipp Theisohn für eine Mitarbeit gewonnen – der Literaturwissenschaftler steuert ein Vorwort bei, das Kaisers Werk literaturwissenschaftlich einordnet.

Wie der mit ihr befreundete Nobelpreisträger Carl Spitteler verharre Kaiser auf der Schwelle zur Moderne, schreibt Theisohn in seinem Text, ihre literarische Ästhetik sei noch im Historismus des 19. Jahrhunderts verhaftet. Tatsächlich merkt man ihrer Sprache und den Themen deutlich an, in welcher Epoche Kaiser zu verorten ist. Sichtbar werde ihr literarisches Erbe auch durch den Einsatz von moralphilosophischen und religiösen Kodizes, erläutert Theisohn, sowie durch die Situierung ihrer Geschichten in einer instabil gewordenen Wirklichkeit, wie sie sich an der Schwelle zum 20. Jahrhundert präsentiert. Gerade für Innerschweizer:innen ist nicht zuletzt die Verankerung im lokalen Kontext interessant und darum ein Muss, was Theisohn ganz allgemein empfiehlt: Man solle Kaiser wiederlesen.

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