01.06.24
Film
Sanfter Surrealismus
Radios, die Tote zum Leben erwecken. Glühbirnen, die ohne Strom leuchten. Lisa Gertsch gelingt mit «Electric Fields» ein herrlich unaufgeregter Episodenfilm.
Heinrich Weingartner (Text) und Lisa Gertsch (Filmstills)
Lisa Gertsch. Diesen Namen muss man sich merken. Die 1992 in Bern geborene Regisseurin hat ihren ersten Kurzfilm im Alter von 25 Jahren gedreht. Er erschien 2017 und hiess «Fast alles». Darin muss Leandra ihren Ehemann Paul, der an Demenz erkrankt ist, ins Heim bringen. Der erst 47-Jährige möchte aber lieber mit Leandra Ferien machen. Deshalb fahren sie zusammen ans Meer.
Ihr Kurzfilm über Demenz, der ein ernsthaftes Thema gekonnt mit Humor anreichert, hat in der Schweiz sowie international Anerkennung gefunden. Und die hatte Gertsch sich verdient: Selten legen junge Filmschaffende in ihrer ersten Produktion ein derart hohes Stilbewusstsein an den Tag. Die unaufgeregte Sanftheit der Montage, die Ruhe und Geduld für poetische Momente und die präzise Schauspielführung zeigten das schlummernde Talent der Berner Regisseurin.
Skizze als Konzept
Zu Beginn ihres neuen Films «Electric Fields» treffen wir auf einen alten Bekannten: Die allererste Einstellung zeigt Michael Neuenschwander, der im eben erwähnten Kurzfilm den dementen Paul spielte. Sein verknautschtes Gesicht und seine papihafte Art strahlen eine wohlige Wärme aus. In einer der ersten Szenen sitzt er auf einem Stuhl, neben ihm liegt sein toter Vater. Als Neuenschwander ein kleines Radio einschaltet, öffnet die Leiche die Augen. Doch sobald er es wieder ausschaltet, fallen dem totgeglaubten Vater wieder die Augen zu. Dieses Hin und Her endet in einer amüsanten Pointe.
Diese Wendungen ziehen sich durch «Electric Fields»: Scheinbar alltägliche Momente, wie der Besuch bei einem Elektriker oder ein Bewerbungsgespräch, verlieren durch einen absurden Kniff ihre Vertrautheit. Die insgesamt sechs Episoden sind skizzenartig – oft erhält man das Gefühl, Lisa Gertsch probiere aus und habe gewisse Dinge noch nicht zu Ende gedacht. Das ist umso erfrischender, weil sie ihren ersten Langspielfilm nicht im Voraus mit «Bedeutungen» oder einer «Message» auflädt. Das Skizzenartige ist Konzept.
Vertraut und doch fremd
In «Electric Fields» perfektioniert Lisa Gertsch ihren in «Fast alles» angeklungenen Stil. Für die Weiterentwicklung ihrer Bildsprache wählt sie den Weg der Reduktion: Die unerklärlichen Ereignisse regen die Fantasie des Publikums an. Die ästhetisierenden Aufnahmen und das karge Sounddesign servieren Gertschs sanften Surrealismus noch trockener und kafkaesker. Die gelegentlichen Klavierpassagen von Frédéric Chopin sind die roten Farbtupfer, die auffälligen Ausrufezeichen im sonst kargen Schwarz-Weiss-Duktus.
Die Regisseurin schafft es, das Publikum in eine Welt zu entführen, die gleichzeitig vertraut und doch seltsam fremd erscheint. Besonders beeindruckend ist die Leistung des Casts, die jeder Figur eine nuancierte Tiefe verleiht und es dem Publikum ermöglicht, sich mit ihren Freuden und Ängsten zu identifizieren. Julia Jentsch, Michael Neuenschwander, Sophie Hutter und die anderen Mitglieder des Ensembles brillieren in ihren Rollen.
Und wenn stellenweise der Wes-Anderson-Einfluss überhandnimmt, in manchen Szenen der Humor etwas gar schenkelklopfend gerät und die Kunst zu künsteln beginnt, verzeiht man das dem Film nur allzu gern. Weil man sieht, dass der Versuch und das Unfertige zur Kunstform erhoben werden, man einfach mal macht und den Findungsprozess offen zeigt. Die Skizzenhaftigkeit liegt vielleicht auch in der ausgedehnten und mäandernden Entstehung des Films begründet, die sich über einen Zeitraum von eineinhalb Jahren hinzog, wie Lisa Gertsch im Presseheft verrät: «Mit wenigen Mitteln haben wir versucht, Einschränkungen als Chance zu nutzen. Der Film wurde Teil meines Alltags und entwickelte eine erzählerische Eigendynamik, die sich aus dem Rhythmus dieser intuitiven Arbeitsweise ergab.»
«Electric Fields» ist ein herausragendes Erstlingswerk. Es ist eine Hommage an die Unergründbarkeit der menschlichen Existenz, eingefangen in poetischen Bildern und absurden Momenten, die sich gegenseitig wunderbar ergänzen. Lisa Gertsch gelingt es mit diesem Film, das Normale in etwas Aussergewöhnliches zu verwandeln und uns daran zu erinnern, dass das Leben selbst die grösste Kunstform ist.