01.04.24
Film
Sag mir, wie du sagst, und ich sage dir, wer du bist
Der Luzerner Regisseur Aldo Gugolz hat mit «Omegäng» eine beeindruckende Rundschau in die Welt der Schweizer Mundarten geschaffen.
Simon Leuthold (Text) und Aldo Gugolz (Filmstills)
An den Mundarten kommt in der Schweiz niemand vorbei. Dass im Alltag Mundart gesprochen wird, ist an den meisten Orten zumindest in der Deutschschweiz eine Selbstverständlichkeit. Kaum etwas anderes aus der Sphäre des Alltäglichen ist so eng mit dem Identitätsverständnis der Menschen verknüpft wie ihre Sprache. Wo immer das Thema Mundart aufkommt und egal, wen man dazu fragt, kann man sicher sein: Eine Meinung zur Mundart haben fast alle.
Diesen Eindruck zementiert der neue Film «Omegäng» des Luzerner Regisseurs Aldo Gugolz. In seiner beeindruckenden Dokumentation berichten die unterschiedlichsten Menschen über ihren persönlichen Umgang mit Mundart: vom wortkargen Appenzeller Älpler über bekannte Wortakrobat:innen wie Big Zis oder Franz Hohler bis zur Theaterpädagogin aus Altdorf, die Migrant:innen mit Mundart vertraut macht. Beeindruckend ist «Omegäng» nur schon, weil der Film sich dem schier uferlosen Thema Mundart ohne eine wahrnehmbare übergeordnete Fragestellung und ohne didaktisch leitende Erzählstimme widmet. Vielmehr scheint der Film von einer inhärenten Neugier getrieben, die uns unmittelbar eintauchen lässt in das, was die Protagonist:innen in Sachen Mundart umtreibt.
Fragen von hinter der Kamera sind selten. Wenn sie doch vorkommen, sind sie äusserst kurz: «Was ist besonders an deiner Mundart?» oder «Was bedeutet das berndeutsche Wort ‹omegäng›?» So ergibt sich eine lose Folge von schlaglichtartigen Aussagen, die erst nach und nach miteinander in einen Zusammenhang treten. Verknüpft sind sie im Film nur durch kryptisch anmutende Aufnahmen von Verkehrskreiseln auf Schweizer Strassen.
Was Franz Hohler meint, wenn er abstrakt von der «linguistischen Biodiversität» in der Schweiz spricht, veranschaulicht zum Beispiel ein Bauer in Diepoldsau, indem er nachdenklich auf den Bereich hinter seinem Feld deutet und anmerkt, die Ausdrücke «Sonntighääs» oder «Werchtighääs» (auf Neudeutsch: Sonntags- oder Werktagsoutfit) benutze man «da hinten» bereits nicht mehr. Die Dialektvielfalt beginnt also schon am Rand des eigenen Hofs.
Wo immer das Thema Mundart aufkommt und egal, wen man dazu fragt, kann man sicher sein: Eine Meinung zur Mundart haben fast alle.
Die Hoffnung schlechthin
Die Berner Musikerin Alwa Alibi sieht die Mundart wiederum als Möglichkeit, eine aussichtslose, abgestumpfte Lebenslage zum Ausdruck zu bringen: «Chumm mir schlö e Schibe ii hüt Nacht / Nume für ds Gfüu mir heige irgendöpis gmacht», singt sie in einem Song. Hoffnung? Für Alwa Alibi auch in Mundart schwer zu finden. Dem entgegen steht im Film Awad Aman aus Eritrea. Der Bäcker-Konditor versucht in Altdorf, für seine Familie den Nachzug in die Schweiz zu ermöglichen, doch sein Lohn reicht dafür nicht aus. Für ihn ist Mundart die Hoffnung schlechthin: Mit Mundartkenntnissen malt er sich bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt aus.
Je länger man sich in «Omegäng» vertieft, desto differenzierter wird das Bild, das diese Dokumentation von den Schweizer Dialekten zeichnet. Auch wenn Mundart für alle ein zentraler Bestandteil des Lebens in der Deutschschweiz ist, spielt sie doch viele unterschiedliche Rollen. Diese legt Aldo Gugolz geschickt frei, indem er uns Menschen mit verschiedenen Perspektiven einfach zuhören lässt. Alt, jung, professionell, unbedarft, künstlerisch, analytisch – Mundart betrifft uns alle.
Gugolz’ Film fördert durchaus auch Absurdes und Widersprüchliches zutage und regt immer wieder zum Schmunzeln an. Etwa, wenn der Chefredaktor des «Schweizerischen Idiotikons» – des Schweizer Mundartwörterbuchs – sich über den Inhalt eines Zettelkastens beugt und gesteht: «Ich verstaa wiitgehend Bahnhof.» Oder wenn die Zürcher Rapperin Cachita selbstsicher erklärt «Ich ha gmerkt, dass Änglisch nöd mini Sprach isch, i welere dass ich dänke: Ich dänke uf Mundart» und dabei nicht merkt, wie hochdeutsch die Formulierung war, die sie gerade benutzt hat. Doch kaum möchte sich wohl so manche:r Mundartpurist:in darüber aufregen, entkräftet Franz Hohler alles gleich wieder: «Was Mundart isch, entscheidet de Sprachgebruuch.» Das sitzt.
Mer sächid oder mer sechid?
«Omegäng» ist auf die Aussagen einer Reihe unterschiedlicher Protagonist:innen aufgebaut. Damit bedient sich der Film eines Verfahrens, das in der Mundartforschung schon seit langer Zeit zur Anwendung kommt. Schon der erste Sprachatlas der Deutschschweiz stützte sich beispielsweise wesentlich auf Befragungen von Gewährspersonen vor Ort. Dass diese Art der Datenerhebung noch immer funktioniert, beweisen auch Forscher:innen der Uni Bern, die im Film vorkommen. Für den neuen schweizerdeutschen Sprachatlas, der Ende Jahr erscheinen soll, befragen sie (diesmal per App) Gewährspersonen darüber, was «ihr» Mundartwort für bestimmte hochdeutsche Wörter ist, und wie sie gewisse Wörter aussprechen. Bei den Befragten führt das gelegentlich zu Verunsicherung: Spricht man «wir sehen» in der Mundart von Oberried im Rheintal eher «mer sächid» oder «mer sechid» aus? Wie solche Beispiele zeigen, macht es nur schon einen grossen Unterschied, wie stark das Bewusstsein beim Sprechen auf die Mundart an sich gerichtet ist.
Eine Leerstelle lässt dieser facettenreiche Film mit seinem Fokus auf die Deutschschweiz bestehen: Was ist mit den anderen Sprachregionen der Schweiz? Anders als in der Deutschschweiz sind die nicht standardisierten Mundarten zum Beispiel des Französischen oder des Italienischen in der Romandie und im Tessin sukzessive zurückgedrängt worden und haben heute kaum noch Bedeutung. Wie sähe es dort aus? Auch ein Blick über die Grenze nach Deutschland fehlt, wo Mundart weitherum als Sprache der sozial Tiefergestellten stigmatisiert ist. Dafür bleibt eine Möglichkeit für ebenso grossartig neugierig angelegte Folgeprojekte jenseits der (Sprach-)Grenzen offen.
Das Thema Mundart in seiner Gesamtheit in einem einzigen Film zu erfassen, ist wohl ohnehin unmöglich. «Omegäng» bringt es aber fertig, beeindruckend viele Teile dieses Ganzen zu zeigen und Türen aufzustossen – auch in wenig vertraute Bereiche. Mundart hat mit uns allen zu tun. Wir müssen omegäng dran denken.