
28.06.25
Musik
«Man kann zaubern in Luzern»
26 Jahre lang hat Michael Haefliger das Lucerne Festival geleitet. Er hat Projekte mit Strahlkraft aufgebaut, grosse internationale Namen nach Luzern geholt – und nur einen Traum nicht realisieren können.
Susanne Kübler (Text)
Michael Haefliger, Sie haben die Leitung des Festivals 1999 übernommen, mit 37 Jahren. Was war damals der Plan?
Ich war der erste Vollzeit-Intendant, mein Vorgänger Matthias Bamert hatte das Festival noch in einem Teilzeitpensum geleitet. Aber mit der Eröffnung des KKL wollte man alles neu aufbauen: Das war mein Auftrag. Dieser Aufbau betraf alle Bereiche, das Team, das Programm, die Finanzen. Die Sinfoniekonzerte blieben zwar der Kern des Festivals, sowohl in der künstlerischen als auch in der wirtschaftlichen Dimension. Aber dazu konnten wir eigene Projekte entwickeln, die uns eine ganz andere Identität gegeben haben.
2003 wurde das Lucerne Festival Orchestra gegründet, 2004 die Lucerne Festival Academy. Sie konnten mit dem Dirigenten Claudio Abbado und dem Komponisten Pierre Boulez die grösstmöglichen Namen für diese Projekte gewinnen. Wie kam es dazu?
Es war ein Riesenglück, dass es mit beiden geklappt hat. Sicher hatte es auch mit dem KKL zu tun, das für Visionen gebaut wurde; im alten Saal wäre so etwas nicht möglich gewesen. Abbado sagte damals nach mehreren Gesprächen trotz seiner schweren Krebserkrankung zu. Er hatte bei uns noch einmal eine sehr gute künstlerische Phase, zehn Jahre lang. Bei der Academy kamen zwei Dinge zusammen: Ich interessierte mich brennend für das zeitgenössische Musikschaffen, und aufgrund meiner früheren Tätigkeit beim Davos Festival war mir die Nachwuchsförderung sehr wichtig. Als ich Boulez vorschlug, die beiden Dinge zu kombinieren, war er sofort dabei: Das sei genau das, was er immer schon habe machen wollen.
Wie war die Zusammenarbeit mit den beiden?
Boulez war eine grosse Vorbildfigur. Er wusste sehr schnell, was er machen wollte, schon beim zweiten Treffen präsentierte er konkrete Pläne. Bei Abbado war es eher wie in einem Traum, man konnte jeweils gar nicht glauben, was da im Konzert passierte.
Inzwischen ist Abbado gestorben, Boulez und sein Nachfolger Wolfgang Rihm leben ebenfalls nicht mehr. Fehlen diese Identifikationsfiguren? Vor allem beim Orchester hat man den Eindruck, dass es seine Identität ein wenig verloren hat.
Viele haben gedacht, es sei unmöglich, dieses Orchester nach Abbado zu übernehmen, aber Riccardo Chailly war furchtlos. Er ist vielleicht nicht so populär, aber er hat starke Akzente gesetzt beim Repertoire, auch technisch hat er Impulse gegeben. Es ist nun nicht mehr ein Abbado-Orchester, sondern ein Festival-Orchester, das auch von anderen dirigiert wird. Bei der Academy hat mein Nachfolger Sebastian Nordmann kürzlich den Komponisten und Dirigenten Jörg Widmann als Nachfolger von Wolfgang Rihm ab 2026 vorgestellt – eine spannende Wahl.
Es werden also sowohl das Orchester als auch die Academy weitergeführt?
Ja, das ist vertraglich so festgehalten.
Andere Projekte, die Sie aufgegleist haben, sind wieder verschwunden – etwa das Oster- und das Piano-Festival.
Auf diesem Top-Niveau gibt es immer Diskussionen, und diese Nebenfestivals waren umstritten. Ich persönlich habe vor allem das Ende des Piano-Festivals bedauert. Aber nun haben wir ein Klavier-Fest im Mai, das der Pianist Igor Levit kuratiert. Es gibt das Forward-Festival mit zeitgenössischer Musik im November, dazu einen Schwerpunkt mit dem Lucerne Festival Orchestra im Frühling. Entscheidend ist, dass das Sommer-Festival bleibt. Das ist die zentrale Plattform – darum herum kann man immer wieder etwas anderes machen.
Neben vielen positiven Schlagzeilen hat es während Ihrer Intendanz auch ein paar negative gegeben. Etwa, als kürzlich ein Hauptsponsor abgesprungen ist aus Protest gegen die Tatsache, dass der Ex-CS-Mann Walter Kielholz nach wie vor im Stiftungsrat sitzt.
Das hatte ich so tatsächlich noch nie erlebt. Das Thema lag beim Stiftungsrat, er hat da richtig entschieden. Wir haben zu diesem Thema gesagt, was es zu sagen gibt, eine vertiefende Diskussion wollen wir aus Respekt vor allen Beteiligten nicht führen.
Und finanziell ist das kein Problem?
Nein. Das Festival ist sehr stabil aufgestellt. Und wir konnten andere Sponsoring-Partnerschaften ausbauen.
Sie haben das Lucerne Festival 26 Jahre lang geleitet, das ist eine sehr lange Zeit. Hatten Sie nie genug?
Zwischendrin habe ich manchmal schon gedacht: Warum mache ich das eigentlich? Es gab Themen im Team oder auch politische Themen, die keinen Spass machten. Aber man muss sehen: Es ist etwas anderes, ob man als Intendant ein bestehendes Haus übernimmt oder ein Festival sozusagen von Grund auf neu entwickelt. So etwas braucht Zeit und Kontinuität. Als Abbado und Boulez starben, war es wichtig, zu bleiben, um sicherzustellen, dass diese Projekte weitergehen, dass sie als feste Pfeiler verankert werden.
Wenn Sie von politischen Themen sprechen, war das grösste davon die Salle Modulable: Dieses Projekt eines flexiblen Saals für Musiktheater war Ihnen sehr wichtig – aber es scheiterte in einer Abstimmung.
Ich war sicher, dass Luzern im Bereich des Musiktheaters etwas braucht, etwas Spezielles, Innovatives. Aber vielleicht war dieser Traum eine Nummer zu gross, jedenfalls hat er sich nicht erfüllt. Und doch würde ich es auch im Rückblick noch einmal versuchen. Natürlich, ohne dieses Projekt hätte ich sehr viel Zeit, Energie und Nerven gespart. Aber manchmal muss man etwas wagen.
Was dachten Sie, als kürzlich der geplante Neubau des Luzerner Theaters an der Urne abgeschmettert wurde? Inwiefern waren Sie in dieses Projekt involviert?
Ich war in der Projektierungsgesellschaft dabei, auch beim Architekturwettbewerb. Ansonsten hatte ich keine Funktion. Aus meiner Sicht war es ein spannendes Projekt, und ich bedaure, dass es nicht zustande kommt. Aber es zeigte einmal mehr, wie schwierig es ist, in Luzern ein Theaterprojekt durchzubringen.
Woran liegt das aus Ihrer Sicht?
Es gibt zu viele Partikularinteressen. Als wir die Salle Modulable planten, wurde kritisiert, dass wir nicht am alten Standort des Theaters bauen wollten, den wir als zu klein beurteilten. Jetzt wollte man den Standort belassen, aber das Projekt wurde als zu gross verworfen. Es ist wirklich ein Problem mit dem Theater. Aber dieses Problem muss Luzern lösen, nicht ich.
Wie ist es eigentlich, als grosser internationaler Player in einer Stadt wie Luzern Kultur zu machen? Wird man geschätzt oder gibt es auch Misstrauen?
Mit rund 90 Prozent Eigenfinanzierung belasten wir die Luzerner Kasse nicht so sehr, und wir bringen lebendige Veranstaltungen in die Stadt. Aber man muss schon schauen, dass man nicht abhebt. Wir haben immer sehr bewusst auch an die lokale Bevölkerung gedacht – etwa mit dem Gratisformat «40min». Auch die Open-Air-Veranstaltungen, das Public Viewing auf dem Inseli und das Festival «In den Strassen» werden immer wichtiger.
War auch die IG Musikstadt, bei deren Gründung das Lucerne Festival dabei war, ein Schritt in diese Richtung? Sie haben sich da mit verschiedenen Veranstalter:innen zusammengetan, andere fühlten sich ausgeschlossen.
Aber seither hat sich diese IG Musikstadt sehr gut entwickelt! Am Anfang gab es einige Aufregung – zu viel Sinfonieorchester, zu viele grosse Player. Doch man hat sich sehr schnell geöffnet, mittlerweile sind auch zahlreiche kleinere Institutionen dabei. Da passiert sehr viel, es gibt eine gute Leitung. Die IG Musikstadt wird in diesem Sommer auch einen Tag in der Ark Nova bestreiten.
Die Ark Nova ist der erste aufblasbare Konzertsaal der Welt. Sie haben ihn 2011 nach der Erdbebenkatastrophe in Fukushima initiiert, nun kommt er erstmals in die Schweiz. Ist dies das verrückteste Projekt, das Sie je angestossen haben?
Es war ein sehr emotionaler Entscheid, das zu versuchen – aus Betroffenheit für die Region, aus Verbundenheit mit den Menschen, die dort leben. Ich kannte den japanischen Architekten Arata Isozaki, er brachte den britischen Künstler Anish Kapoor ins Spiel. Es war nicht einfach, diesen Saal zu realisieren, es gab viele politische Hürden in Japan. Aber als er dann stand, war es ein Ereignis: als soziales Projekt und als tolles Kunstprojekt, das mit seiner Wertigkeit Hoffnung und Zuversicht in die Region brachte.
War es auch Werbung für das Lucerne Festival?
Ja, schon. Die Ark Nova ist fotogen, und sie passt zu uns: Sie zeigt, dass wir nicht in der Routine leben, dass es immer wieder Überraschungen gibt.
Wenn Sie nun das Lucerne Festival verlassen: Planen Sie anderswo Überraschungen?
Es gibt Ideen. Aber ich werde mir Zeit nehmen und erst mal darüber nachdenken, wer Michael Haefliger jetzt ist.
Und welchen Tipp würden Sie Ihrem Nachfolger geben?
Alles versuchen, auch weit weg von der Normalität! Obwohl man manchmal scheitert – man kann zaubern in Luzern.
Michael Haefliger studierte Violine an der Juilliard School in New York und Management an der Universität St. Gallen. 1986 initiierte er das Davos Festival, das er bis 1998 als Intendant leitete. Von 1996 bis 1998 war er künstlerischer Leiter des Collegium Novum Zürich. 1999 folge die Intendanz des Lucerne Festival, die er 26 Jahre innehatte.