
28.01.25
Fatto a mano
Die Luzerner Colonia Libera Italiana feiert das 80. Jubiläum. Hier zeigt sich, wie wichtig konkrete Unterstützung im Alltag, aber auch das eine oder andere Fest für die Migrationsgesellschaft ist.
Alice Galizia (Text) und Mischa Christen (Bilder)
In bunt gemustertem Hemd und kurzer Hose leuchtet Ippazio Calabrese dem grauen Sonntagnachmittag entgegen: Er steht auf der Treppe vor dem Eingang zur Colonia Libera Italiana, Baselstrasse 21, wo auch der Sentitreff zu Hause ist. Draussen stehen neben einem hübschen kleinen Sitzplatz blühende Blumentöpfe und eine Menge Fahrräder, im Innenhof findet gerade ein Fest statt. Calabrese führt daran vorbei und durch die Räume, grüsst hie und da, schliesslich setzen wir uns an einen Tisch in der Ecke. Noch ist es ruhig in diesem gemütlichen Raum, der wie eine Mischung aus Quartiertreff und Beiz irgendwo in der italienischen Provinz wirkt. Im Regal hinter uns Pasta-Packungen, grosse Dosen mit Mutti-Pelati und Wein, linker Hand eine grosse Pinnwand mit Flyern und Plakaten zu den nächsten Anlässen: «Pizza backen mit Leo», «La tombola per bambini», «Tanzplausch – Tarantelle del sud» oder «Steuererklärung! Dichiarazione di redditi!» Calabrese serviert «caffè» und Mineralwasser.
Seit 1944, also 80 Jahre, gibt es die Colonia Libera Italiana in Luzern nun schon. Seit 2021 ist Ippazio Calabrese, 63 Jahre alt, deren Präsident. Die Colonia hat bewegte Zeiten hinter sich und ist tief in die Geschichte der italienischen Migration der Schweiz seit dem Zweiten Weltkrieg eingeschrieben.
Aktivismus und Basisarbeit
Die erste Colonia Libera in der Schweiz entstand 1925 in Genf, gegründet von Antifaschisten, die aus dem von Mussolini regierten, faschistischen Italien emigriert waren. «Colonia» verwies dabei auf die Gesamtheit der italienischen Diaspora an einem Ort, «Libera» markierte die Abgrenzung vom Faschismus. In den Jahren darauf entstanden in vereinzelten Schweizer Städten weitere Colonie Libere, wo sich auch während des Zweiten Weltkriegs die antifaschistischen Kräfte bündelten. Die grosse Zeit der Colonie Libere kam aber erst in den Vierzigerjahren: 1943 wurde Mussolini gestürzt, in Italien wurden daraufhin alle faschistischen Organisationen verboten. Auch die Emigrant:innen in der Schweiz mussten sich neu sortieren, woraufhin in vielen Städten neue Colonie aufgebaut wurden. Am 21. November 1943 wurde mit der Federazione delle Colonie Libere in Svizzera (FCLIS) der Schweizer Dachverband gegründet, der bis heute existiert und dem gegenwärtig um die fünfzig Colonie angehören. 1944 stiess Luzern dazu.
Die Colonie hatten von Anfang zum Ziel, die italienischen Migrant:innen abzuholen, die häufig faschistisch und klerikal beeinflusst waren. Zu diesem Zweck verfolgten die Colonie konkrete Basisarbeit: Sie boten den italienischen Migrant:innen soziale, finanzielle und kulturelle Unterstützung bei ihrer Ankunft in der Schweiz. Freizeitaktivitäten und kulturelle Veranstaltungen wurden ebenso organisiert wie Hilfe bei behördlichen Angelegenheiten sowie Sprach- und Weiterbildungskurse; es gab Filmklubs, Fussballmannschaften und Feierlichkeiten. In der Luzerner Colonia wurden aber auch schon Schweisskurse durchgeführt.
In den Sechziger- und Siebzigerjahren engagierten sich die Colonie dann vermehrt auch politisch: Sie setzten sich gegen das Saisonnierstatut ein und für den Familiennachzug italienischer Arbeiter:innen, organisierten Demonstrationen und Kongresse; weiterhin unterstützten sie die italienischen Migrant:innen mit konkreter Hilfe beim Ankommen und Bleiben. Politisch war die FCLIS stark von der Kommunistischen und der Sozialistischen Partei Italiens beeinflusst, was den Schweizer Staat, der sich im Modus des Kalten Krieges befand, auf den Plan rief: Zwischen 1950 und 1980 erfasste die Bundespolizei Fichen von rund 600 000 Migrant:innen, zu einem Grossteil aus Italien.
Es wird Italienisch gesprochen, aber nicht nur – Mitglied der Colonia kann grundsätzlich jede:r werden, zum Essen und Mitmachen willkommen sind sowieso alle.
Essen für den Zusammenhalt
Die Luzerner Colonia Libera versteht sich heute als politisch neutral, doch mit klarem Bezug zur eigenen Geschichte: Kein Zufall etwa, dass hier nicht der katholische Feiertag Ferragosto (Maria Himmelfahrt) am 15. August fix in der Agenda steht, dafür aber der 25. April, an dem die Befreiung Italiens vom Faschismus gefeiert wird. «Natürlich vergessen wir unsere antifaschistischen Wurzeln nicht», sagt Ippazio Calabrese, dem die derzeitigen politischen Entwicklungen in Italien um Ministerpräsidentin Giorgia Meloni und ihre postfaschistische Partei Fratelli d’Italia Sorgen bereiten. Trotzdem äussert sich die Colonia als Verein nicht explizit politisch. Hier wird ein pragmatischer, basisorientierter Zugang gepflegt, der den Leuten in ihrem Alltag konkret Unterstützung bietet: beim Ausfüllen der Steuererklärung etwa, bei Fragen zu Versicherungen, bei Behördengängen, beim Kontakt zum Konsulat oder bei der Übersetzung von offizieller Korrespondenz. Daneben bietet die Colonia vor allem auch Raum zum Zusammensein. Jeweils am Samstag findet in Zusammenarbeit mit dem Sentitreff das Caffè Politico statt, das allen offensteht und wo aktuelle gesellschaftliche Themen besprochen werden. Es gibt Tanzanlässe, Spielnachmittage und gemeinsames Pizzabacken, denn in erster Linie ist dieser Ort heute eines: ein Treffpunkt.
Der Stolz ist Ippazio Calabrese anzusehen, wenn er über die letzten Jahre der Colonia spricht und über die Arbeit, die geleistet wurde. Eine Zeitlang sei der altehrwürdige Treff etwas verwahrlost gewesen, es habe fast keine Mitglieder mehr gegeben, unter seiner Ägide seit 2021 stieg deren Zahl wieder auf 300 an. Calabrese war es auch, der sich für das kulinarische Angebot in der Colonia starkgemacht hat. «Vorher gab es hier einfach eine Bar. Mir war klar, wie wichtig es für den Zusammenhalt ist, dass man gemeinsam essen kann.» Eine Küche wurde eingebaut, und so verwandelte sich das Lokal in ein kleines Restaurant, in dem Calabreses Sohn Leonardo jeweils am Mittwoch- und Freitagabend sowie samstags und sonntags Pizza bäckt und Pasta kocht. Das Angebot ist beliebt: Je später dieser Sonntagnachmittag wird, desto öfter kommen Leute vorbei, die eine Pizza über die Gasse bestellen; nach und nach füllt sich auch der kleine Raum mit Abendgesellschaften, die bei einem Apéro beisammensitzen. Es wird Italienisch gesprochen, aber nicht nur – Mitglied der Colonia kann grundsätzlich jede:r werden, zum Essen und Mitmachen willkommen sind sowieso alle. Dina Dietschi etwa, 23 Jahre alt, die in Kriens aufgewachsen ist und nun in der Nähe wohnt, schwärmt von der Colonia: «Ich liebe das Essen und die Gastfreundschaft. Es macht richtig Spass, Teil davon zu sein.» Dietschi ist seit einem Jahr Mitglied der Colonia, oft hilft sie im Service und bei Anlässen, wie bei allen andern hier ist ihre Arbeit ehrenamtlich.
Italienisch alt werden
«Wir finanzieren uns über Mitgliederbeiträge und über die Gastronomie», sagt Ippazio Calabrese, Löhne können sie sich nicht bezahlen. Die Bereitschaft, mitzumachen, ist aktuell bei vielen trotzdem hoch. Er zeigt Fotos von Anlässen, von Kindern beim fröhlichen Pizzabacken und von der Schlange beim Eingang, als die Colonia im Sommer zusammen mit dem Sentitreff die Fussball-EM-Spiele zeigte. Calabreses Elan für die Colonia und die italienische Gemeinde ist spürbar – er selbst kam vor über vierzig Jahren aus einem Dorf bei Lecce, Apulien, in die Schweiz und arbeitet nun als Versicherungsangestellter, spricht Deutsch mit einem italienischen Akzent und ist in Luzern bestens vernetzt.
Momentan ist es vor allem das Älterwerden von Migrant:in, das ihn beschäftigt: Zu oft habe er erlebt, dass Italiener:innen hier alt werden und aus der Gemeinschaft fallen, sobald sie ins Altersheim müssen. «Dort spricht oft niemand Italienisch, auf einen Schlag haben sie keinen Zugang mehr zur italienischen Kultur, zum Essen, zur Sprache. Das macht einsam», sagt er. Sein aktuelles Ziel ist es, ein italienisches Altersheim zu ermöglichen – oder zumindest eine italienische Abteilung in einem bestehenden. «In Spreitenbach habe ich im Altersheim die mediterrane Abteilung besucht, da war die Stimmung fantastisch. Es geht darum, dass die Menschen auch am neuen Ort ihre Wurzeln und ihre Kultur pflegen können.» Wie wichtig es für die Menschen ist, ihre Sprache und Kultur zu erhalten, hat Ippazio Calabrese in der Colonia zigfach erlebt. «Die Leute sollen weiterhin Teil der Gemeinschaft sein, auch wenn sie alt werden. Wir werden sehen, vielleicht erreichen wir auch das.»