Zwischen Wahnsinn und Wahrheit

o.t. Raum für aktuelle Kunst, Luzern, 21.11.2019: Wer soll noch helfen, wenn die Welt den Bach runtergeht? Eine Ausstellung zeigt, welches Unbehagen zwischen Kunst, Glauben und Wissenschaft entsteht.

Ein grosser Haufen apokalyptischer Warnungen schichtet sich Tag für Tag weiter auf. Man kann sich daran gewöhnen. Und ganz verloren kann die Welt ja noch nicht sein, davon zeugen zahlreiche Proteste, Sondergipfel, wissenschaftliche Empfehlungen oder esoterische Quacksalberei für ein besseres Leben im Diesseits. Eine Ausstellung im o.t. Raum für aktuelle Kunst thematisiert diese Spannung von Schrecken und Hoffnung jetzt auf spektakulär zurückhaltende Weise. Julia Schallberger hat Arbeiten von Judith Kakon und Lukas Geisseler versammelt und die beiden dabei gerade nicht gewaltsam unter einen nebulösen, kuratorischen Hut gebracht.

Die Hoffnung im Humbug

Judith Kakon (Basel, *1988) zeigt unter «Disposition» drei zusammenhängende Arbeiten. Im grossen Raum des Kunstpavillons dominiert die Installation «A semaphore or maybe just an accident» (2019). In einer Kasakade türmen sich Plastikrohre aus dem Baugewerbe gleich einer Orgelformation die Wand entlang. Obenauf flackern und glühen zahllose Lampen, die in der jetzigen Jahreszeit fast ein festliches Lichtarrangement produzieren (es besteht die Versuchung das kalte Deckenlicht zu löschen, das nicht recht passen will). Die vorsichtige Gemütlichkeit weicht allerdings schnell einem Unbehagen. Vor den Baumaterialien und -kanistern breitet sich ein schwarzer Kabelstrom gleich einem Flussdelta aus. Die sakralen und kirchlichen Bezüge brechen somit sofort, denn die offene Infrastruktur wirkt brutal profan.

Judith Kakon im o.T. Raum für aktuelle Kunst

Wenn die Installation das Thema Religion schon andeutet, schliesst sich der Rahmen bei Kakons weiteren Arbeiten, einem Druck zu einem Londoner Wunderheiler und einer Projektion zum mexikanischen Totenfest. Wenn schon alleine die Pluralität religiöser und mystischer Praxen darauf hinweist, dass jeder einzelner Glaube seinem eigenen Wahn anhängt, so ist doch auch deutlich, welche grosse Anziehungskraft übernatürlicher Humbug und Zauberei vielleicht gerade heute noch haben. Auch wenn die Versprechungen so offen absurd sind, wer kann unter der aktuellen Nachrichtenlage schon jemandem das bisschen Hoffnung verübeln?

Dem Horror nahe

Lukas Geisseler (Chur und Luzern, *1985) widmet sich unter dem Titel «0.01% of Earth’s Life» dem anderen Ende dieses Spektrums von Wahnsinn und Wahrheit. Während bei Kakon noch die wackligen Hinterbühnen und ebenso wackligen Versprechen von Religion und Zauberei im Zentrum stehen, bietet Geisseler harte Fakten im Stile der ebenso harten Naturwissenschaften. Auf akkurat ausgerichteten Tischen liegen akkurat gestapelte Papierstösse, auf denen wortwörtlich Teile des Internets ausgedruckt wurden und die bedrohte Tier- und Pflanzenarten zeigen. Höhe und Farbe des Papiers zeigen jeweils einen Gefahrengrad an, wir können also alles messen und auch die grösste Naturkatastrophe wird noch in einem einfachen Ampelsystem erfasst. Rot bedeutet Gefahr, das war ja schon im kalten Krieg so.

Maximal zurückgenommen säumt daneben eine Serie von Tuschezeichnungen die grauen Wände des kleinen Saals. Geisseler hat kleinste Verlaufsdiagramme gezeichnet, die verschiedenste Entwicklungen unserer Zivilisation und unseres Ökosystems der letzten knapp 120 Jahre darstellen. Sie zeigen betont nüchtern, sozusagen schwarz auf weiss und faktisch, die quantitative Zunahme von Umweltkatastrophen, extremen Naturphänomenen, Emissionen von Treibhausgasen, Mikroplastik, Artensterben, menschliche Erdbevölkerung, industrielle Produktion, und so weiter. Man weiss es ja ungefähr und auch wenn man es eigentlich alles schon gar nicht mehr sehen kann, provozieren Geisselers Miniaturen, dass man der wissenschaftlichen Repräsenation des Horrors nochmal ganz nah kommen will.

Lukas Geisseler im o.T. Raum für aktuelle Kunst

Auf den ersten Blick wirkt das wie eine weitere Position aus dem Lager des Postwachstumsgefasels. Weil Geisseler aber eben doch noch mehr zeigt, will man nicht ins 18. Jahrhundert zurück. In gleicher Diagrammform wird nämlich auch zivilisatorischer Fortschritt auf einem globalen Level dargestellt. Gesteigert sind eben auch die Lebenserwartung, der Zugang zu Elektrizität, die Rechenleistung, der Zugang zu Information und zu Technologie. Hier liessen sich noch weitere Errungenschaften aus den Bereichen der Medizin, Technologie, Demokratie, Lebensmittelproduktion und so weiter anführen. Aber wer Geisselers Reihe abschreitet und denkt, dass dieses Wachstum doch alles nur kaputt mache, muss sich so schon fragen, auf welche (und wessen) Kosten ein Zurück gehen würde.

Wissenschaft, Religion – und Kunst?

Wenn von Kakon und Geisseler Religion und Wissenschaft als zwei der wichtigsten Wissensmaschinerien der Moderne thematisiert werden, liegt die Frage nach der Kunst sehr nah. Auch die Kunst, das hat der Soziologe Pierre Bourdieu eindrücklich gezeigt, hat ein stilles Glaubensfundament und eigene Regeln zur Produktion von Wahrheit und Wissen. Ohne unnützen ästhetischen Überschuss und gerade weil sie sich als Kunst präsentieren, können die Arbeiten von Kakon und Geisseler so zeigen, unter welchen Voraussetzungen gesellschaftliche Gewissheiten produziert werden. In der Ausstellung befinden wir uns mitten in diesem Bermudadreieck zwischen Wahnsinn, Wahrheit und Erfahrung und das solide produzierte Unbehagen ist doch ein Zeichen dafür, dass ein Ausweg so leicht nicht zu finden ist. Und ein Aufgeben ist sowieso keine Option.

Judith Kakon & Lukas Geisseler
Bis 21. Dezember
o.t. Raum für aktuelle Kunst