Zeitgenössische Kunst auf Tuchfühlung mit Sachseln

Ein langweiliger Titel? Ja. Aber (ja immer diese Aber): Sachseln ist klein und eher altmödisch (hat aber im Fall wunderschöne alte Bauten, so das Hotel Bahnhof), und dass hier zwei Kunstbeflissene eine öffentlich zugängliche Plattform für aktuelle Kunst mitten an der Bahnhofstrasse eröffnen, grenzt doch an ein Wunder. Ein schönes. Eröffnet wird die Ausstellungsreihe des Schau! Fenster für aktuelle Kunst von der Künstlerin Judith Albert. Überraschenderweise nicht mit einer Videoarbeit. Nicht per Anhalter durch die Galaxis, aber mit der S5 von Luzern nach Sachseln zur Vernissage an der Bahnhofstrasse 6 fuhr Andrea Portmann.

Sachseln gehört zum Kanton Obwalden. In Sachseln pfeifen so viele Vögel, dass es eine wahre Freude für jeden Ornithologen wär. In Sachseln ist es im Durchschnitt immer ungefähr 5 Grad kälter als in Luzern. In Sachseln ist die Luft frischer. Sachseln ist ein kleines Dorf. In diesem Dorf an der Bahnhofstrasse 6 steht ein malerisches altes Holzchalet. In diesem Holzchalet wohnen junge Leute. Am Anfang (und jetzt vielleicht immer noch) war es den Sachslern und Sachslerinnen ein Rätsel, was die jungen Leute in diesem Haus so treiben. Begonnen hat alles mit einem verkohlten Zopf. Dieser verkohlte Zopf sass demonstrativ im Schaufenster des Erdgeschosses des Holzhauses. Und alle schauten hin zum Schaufenster. Ein schwarzer Zopf an der prominenten Bahnhofstrasse, wo Postauto, Schulkinder, Pferde und Autos passieren, was sollte denn das bedeuten, bitteschön?! In ein Schaufenster gehören schöne Sachen, die das Auge lechzen lassen, zum Kaufen verführen. Und die Sachsler und Sachslerinnen griffen sich an den Kopf und frägten sich, was denn die Jungen in diesem Hause für Unfug treiben und sowieso und überhaupt, was diese jungen Zugezogenen in Sachseln in diesem alten Haus überhaupt wollen – sechs Jahre lang stand es leer und der Rohrer hat wenigstens anständiges Zeug gemacht, ein Nähatelier hat er gehabt in dem Haus, Herrenanzüge und Militäruniformen massgeschneidert. Und der Zopf gab zu denken. Und der private Zopf wurde zum öffentlichen Dorfthema Nr. 1. Das wiederum gab den jungen Leuten von der Bahnhofstrasse 6 zu denken. Vor allem Anna Sabina Zürrer und Evelyn Temperli, zwei der in der Wohngemeinschaft Bahnhofstrasse 6 lebenden jungen Leute. Und der Zopf brachte die beiden auf eine Idee (das lehrt uns: wo immer es geht, alles anbrennen lassen, das fördert die Inspiration):

Verkohlter Zopf in Schaufenster an öffentlichem Standort = irritation totale de la population sachselaire >>>> Verkohlter Zopf = Kunst (Natürlich ist diese Formel stark vereinfacht, eigentlich ist das Ganze viel komplizierter. Es spielen mit hinein die Faktoren a) öffentlich und privat, deren Wechselwirkung und Scharnierstellen b) Wann wird etwas wo als Kunst wahrgenommen und weshalb c) wie funktioniert Kunst an der Bahnhofstrasse 6 in Sachseln)

Ergo entschieden sich die beiden, von nun an dem Namen des Schaufensters alle Ehre zu erteilen und dieses von zeitgenössischen Kunstschaffenden bespielen zu lassen. Finanzielle Unterstützung erhalten sie von der Kulturförderung des Kantons Obwalden, für die Vernissagenhäppli kam ein spendabler Weinhändler der Umgebung, sowie Dorfbeck und Denner von Sachseln auf. Kein Geld gab die Kulturförderung von Sachseln: schliesslich handelt es sich bei diesen jungen zugezogenen Leuten um Ausländer, beispielsweise um Luzerner und unterstützt wird, so lautet das Kulturförderungsprogramm, ausschliesslich das einheimische Kunstschaffen. Eine absolut plausible, ausserordentlich weitsichtige Argumentation.

Und heute war es soweit und heute sind sie gekommen, die Sachsler und Sachslerinnen um zu schauen, was da im Schaufenster geboten wird. Im Gegensatz zum Zopf ist nun klar, dass es sich um Kunst handelt, unmittelbar oberhalb des Schaufenster prangt ein Etikett: «Schau!- Fenster für aktuelle Kunst». Die Zuordnung, welche vorher nicht vorhanden war wird jetzt sofort mitgeliefert und das Ganze somit entschärft. Vorher war Irritation pur. Nun: Schaufenster für Kunst! Da können die Sachsler und Sachslerinnen sagen: ja das ist halt so Kunst und Kunst versteht man halt einfach nicht. Und doch bleiben alle fasziniert vor den beiden Schaufenstern stehen. Langsam gleitet er hinab. In jungfräulicher Wei(s)se. Fliessend. Unten angekommen bilden sich Falten. Faltenschichten. Oben bewegt sich ein Drehmechanismus. Unaufhörlich gleitet der Stoff weiter. Und dann. Ein kurzes, zauberhaftes Moment: ein Wort flackert auf und im nächsten Moment passiert, was das Wort besagt. Die Richtung ändert sich. (Was wäre wenn die Wirtschaft wie die Kunst funktionieren würde?) Der Drehmechanismus rollt den Stoff wieder auf. Drehbewegung für Drehbewegung ein Stückchen mehr Stoff. Enthüllt wird nichts, der Stoff ist da, um als Stoff auf- und abgerollt zu werden, sich in seiner Materialität zu zeigen. Und doch lassen sich einige weitere textile Bedeutungsschichten freilegen, wenn man um die Geschichte des Hauses weiss. Und der Faltenberg wird lichter. Und der Stoff ist eigensinnig. Er gehorcht der maschinellen Drehbewegung nicht, lässt sich nicht exakt aufziehen und das macht ihn schön. Er kräuselt sich, bildet Wülste. Im Schaufenster entdeckt man die Nachmittagssonne, die sich für einen kurzen Moment zwischen die Wolkenbäusche schiebt, man sieht die Bäume von vis-à-vis, sich selbst, die Sachsler und Sachslerinnen. Da hör ich jemanden hinter mir flüstern: «Am liebsten würde ich mit dem Bügeleisen diese Falten und Wülste glätten.»