Zebrafelle und Horoskope

Anstatt in Tansania arbeitet Tatjana Erpen aufgrund der Pandemie diesen Frühling in Luzern. Im Interview spricht sie über ihren Corona-Alltag, Pläne und unseren Umgang mit dem Digitalen – während wie vor der Krise.

Bilder: zVg

Akku leer – das rote Batteriezeichen auf meinem Handy begleitet mich momentan durch den so anders gewordenen Alltag wie ein Mahnzeichen. Statt täglich knapp dreistündiger Pendlerei zwischen Wohn- und Arbeitsort dient der Esstisch nun auch als Schreibtisch und der Weg zwischen Computer und Kaffeemaschine zählt bloss wenige Schritte. Vor dem sich anbahnenden Lockdown habe ich mich in die Bündner Berge zurückgezogen. Die Ferienwohnung meiner Eltern schien mir der geeignetere Quarantäneort, als mir im Schlafzimmer meiner lebendigen Fünfer-WG ein Homeoffice einzurichten.

Im Bewusstsein meiner privilegierten Situation gestaltet sich mein Alltag zunehmend multifunktional: Das Pyjama ist nun auch Arbeitstenü, die mobilen Daten des Handys sorgen via Hotspot für die manchmal stockende Internetverbindung am digitalen Arbeitsplatz. In Zeiten des Physical Distancing ist der Desktop mein fast ununterbrochen genutztes Fenster zur Welt: ob für morgendliche Yoga-Sessions, Skype-Meetings mit Künstler*innen, digitale Vorstandssitzungen oder den Feierabend-E-péro. Und ständig droht der Akku der Geräte sich zu entleeren. Wie vieles andere hat die verhängte Quarantäne die digitale Durchdringung unserer 24/7-Gesellschaft umso sichtbarer gemacht.

Tatjana Erpen
Tatjana Erpen arbeitet im Gelben Haus. Ihren Stipendien-Aufenthalt in Tansania hat sie unterbrochen.

«Empty fire in my phone» – so lautet der Titel der 2019 erschienen Monographie der Luzerner Künstlerin Tatjana Erpen. Darin verbinden sich die unterschiedlichsten Motive wie Hände, Äpfel, eine Steinschleuder oder Fahnen im manuellen Siebdruckverfahren zu einem fotografischen Archiv alltäglicher Geschichten. Diese spürte die Künstlerin unter anderem während ihrer Aufenthalte im Libanon und in Tansania auf. Rückblickend – aus der aktuellen Situation des globalen Stillstands – mutet die titelgebende Aussage eines jungen tansanischen Hirten über seinen leeren Telefon-Akku fast wie ein warnendes (Vor-)Zeichen an.

Anfang Jahr ist Tatjana Erpen erneut mit einem Reisestipendium des Aargauer Kuratoriums nach Tansania aufgebrochen und nun während des Lockdowns wieder in die Schweiz zurückgekehrt. Im E-Mail-Interview erzählt sie von ihrem Alltag zwischen Gelbem Haus und Sedel und schickt gleich noch ein Foto mit der Beschreibung: «Vom Spielplatz, dessen Klettergerüst ich kürzlich zum Fotografieren eines Zebrafells benutzte».

Tatjana Erpens Fotografie-Anlage

In deiner Publikation «Empty fire in my phone» schreibst du: «Ich lebe in einer Situation, in der ich fast alles entscheiden und selber bestimmen kann. Ob ich Tauben füttere, ohne Fahrradhelm fahre, meine Fingernägel lackiere, Zahnseide benutze, alles ist Ausdruck einer Haltung. Im Kleinen fühlt sich diese Entscheidungsfreiheit sehr gut an.» Fühlst du dich im Moment in deiner Entscheidungsfreiheit eingeschränkt?

Nein, es ist immer noch meine Entscheidung, wie ich mich verhalte und an welche Regeln ich mich halte. Es gibt immer Einflüsse, nach denen man sich richten muss. Für mich persönlich hat das Wetter einen viel grösseren Einfluss auf meinen Alltag als die Existenz dieses Virus. Auch für die Rückkehr aus Tansania habe ich mich selber entschieden – ich hätte mich dagegen entscheiden können. Wirklich bedauern würde ich jedoch, wenn Elia und Zakayo, die beiden Projektpartner aus Tansania, diesen Sommer den geplanten Besuch in der Schweiz nicht antreten könnten.

«Für mich persönlich hat das Wetter einen viel grösseren Einfluss auf meinen Alltag als die Existenz dieses Virus.»

Du lebst und arbeitest im Gelben Haus. Wie hat sich der Alltag im Atelierhaus verändert? Vermisst du den Austausch, oder findet er trotzdem statt?

Die gemeinschaftliche Arbeits- und Wohnform im Gelben Haus bewährt sich sehr. Im Moment fühlt es sich gut an, Teil einer Gemeinschaft zu sein, der Alltag untereinander hat sich kaum verändert. Und der Garten ist gepflegter als in anderen Jahren. Drei Personen konnten ihre Atelieraufenthalte im Ausland nicht antreten oder weiterführen und die Musikschaffenden geben keine Konzerte. Somit sind eher mehr Leute im Haus als sonst und alle sind weniger gestresst. Diesen Sommer erwarten wir eine Künstlerin aus Kairo, dann meine Projektpartner aus Tansania und gegen Herbst zwei Kunstschaffende aus Istanbul. Wir hoffen, dass diese internationalen Austausche stattfinden können – Gäste inspirieren uns immer wieder und bringen neue Dynamiken ins Haus.

Tatjana Erpen

Wie sieht deine Arbeitssituation aus: Wo hast du vorher gearbeitet? Wo arbeitest du im Moment?

Meine Arbeitssituation ist dieselbe wie vorher. Ich recherchiere, plane, und schreibe oft im Gelben Haus. Wenn ich Platz zum Ausprobieren, Umsetzen und Reflektieren brauche, arbeite in meinem Atelier im Sedel. Im Gelben Haus habe ich meinen Computer und WLAN, im Sedel arbeite ich bewusst analog. Daraus ergeben sich zwei ziemlich unterschiedliche Denk- und Erfahrungswelten.

Einige deiner geplanten Ausstellungen wurden verschoben. Hat sich für dich inhaltlich etwas geändert in Bezug auf die Arbeiten, die noch im Entstehen sind?

Inhaltlich arbeite ich an denselben Themen wie vorher, aber klar, der Kontext einiger Arbeiten hat sich verändert. Zum Beispiel habe ich in der gesamten Zeit während des Aufenthalts in Tansania parallel Horoskope aus Zeitungen in der Schweiz und in Tansania gesammelt, beziehungsweise sammeln lassen, um Schicksale mit Statistiken von verschiedenen Orten in Verbindung zu bringen.

«Im Umgang mit Krisen, Tod und Ausnahmesituationen sind wir absolut unerfahren und überfordert.»

Gerade die Digitalität ermöglicht uns ja einerseits, an vielen Orten gleichzeitig zu sein, jedoch trägt sie vielleicht auch vermehrt zum Gefühl der Ortslosigkeit bei. Erlebst du die Digitalität momentan als präsenter? 

Seit ich Projekte mit Elia aus Tansania mache, kommuniziere ich fast täglich über WhatsApp – digitaler Austausch war für mich daher schon seit einiger Zeit Alltag. Dank der niederschwelligen Verbreitung digitaler Technologien haben sich Möglichkeiten ergeben, die noch vor fünf Jahren unvorstellbar waren. Handyfilme und Fotografie ist durch mein WhatsApp-Projekt Teil einer Ästhetik geworden, die ich auch in der Kunst verarbeite. Aber Digitalität an sich habe ich bisher nicht thematisiert.

Welche Gedanken gehen dir im Moment durch den Kopf?

Oft spreche ich mit tansanischen Bekannten über Corona und Gott. Ich bin überhaupt nicht gläubig und plädiere regelmässig für eine vernünftige Politik statt allgegenwärtiger Religion. Aber manchmal frage ich mich schon, ob unsere Technikgläubigkeit zum Ziel hat, dem Schicksal zu entgehen. Im Umgang mit Krisen, Tod und Ausnahmesituationen sind wir absolut unerfahren und überfordert. Irgendwie scheint mir hier das Verhältnis von Ängsten und Gefahren aus dem Lot gekommen zu sein. Wir sollten uns also nicht nur im Umgang mit Gefahren von Aussen üben, sondern auch im Umgang mit unseren eigenen Ängsten.