Your Life Sucks

Vibes, Casineum Luzern, 15.09.2018: Yung Hurn beehrte Luzern mit einem dreissigminütigen Club-Set. Neo-Dada oder total gaga?

Unterwegs zum Casi, am Quai: R’n’B, Cardi B, jong ond hässig, Mega Kebab. Dann 30 Minuten anstehen, vier Zuger Maturanden verkürzen die Wartezeit: «Ey Alte, hesch en Grinder?» – «Nei Mann, geb mer Fanta Lemon zum Mixe!» – an dieser Stelle liebe Grüsse und viel Spass in der RS!

Modisch sind die tiefsten Neunziger zurück. Laut den Zuger Maturanden in Gestalt von Dutzenden Hype Beasts. Das sind offenbar Rich Kids, die auf Labels stehen. Louis Vuitton, Comme des Garçons oder Hello Kitty? Relativ egal, Hauptsache, man fällt wenigstens ein bisschen auf. Labels verbinden.  
Hype Beast
Dieser Eintrag im Urban Dictionary stammt aus dem Jahr 2006. Inzwischen ist der Ausdruck auch bei uns angekommen.

Drinnen im Casi wimmelt es vor Yung-Hurn-Mini-Me's: magere braunhaarige Jungs mit Oberlippenflaum, Ponyhaarschnitt und unpackbar grossen weissen Turnschuhen. Reduziert auf drei Keypieces, sieht die Crowd in etwa so aus:

Keypieces
Raver-Brille, Sportjacke (zwingend in rot-blau-weiss!) und Bauchtasche für Krimskrams wie Zigis, Highlighter und CA$H.

Ausserdem auf dem Dancefloor: Crop-Tops à discretion, Ohrringe extra lit und Plateausandalen mit Samtbezug. Und weshalb sind die alle hier? Ach ja, wegen Yung Hurn.

Facebook
Philipp Kathriner (rechts), Geschäftsführer im Rok, promotet die monatliche «Vibes»-Party im Casi. Motto: New School is an attitude!

Aber bevor Yung Hurn kommt, brauchen die Millenials dringend mehr Drinks. Sie tanzen ein bisschen zu ihren Hits, sind aber meistens mit sich selber und ihren Dramen beschäftigt. Ein besonders beliebtes Lied geht so:

Snapchat und Insta verändern auch die Tanzkultur: Die maximale Tanzdauer verhält sich proportional zur Länge eines GIFs. Das Bewusstsein für Posen ist hoch, hochkonditioniert. Hier ein «Skrrrratatata»-Ellbogen-in-die-Leiste-rammen, dort ein flüchtiger Sporthosen-Twerk. Mehr liegt nicht drin am Stück.

Eingefleischte Yung-Hurn-Fans sind übrigens viele da. Sie zeigen ihre Loyalität (abgesehen von den Haarschnitten) insbesondere durch T-Shirts:

Yung Hurn T-Shirt
T-Shirt Nr. 1: Denn sie wissen nicht, was sie tun.

Die meisten sind sich einig, dass gerade Hurns Daneben-Sein ihn so cool macht. «Dä könnt nüüt!», «Är esch eifach so z'vell!», «So en Assi!» – Qualifikationsmerkmale für Coolness.

Yung Hurn, der mit bürgerlichem Namen Julian Sellmeister heissen soll (wie die Luzerner Zeitung unlängst berichtete), kommt aus Wien und wohnt inzwischen in Berlin. War ja klar, oder? Dort ist er Teil des Kollektivs «Live from Earth», das unter anderem seine Youtube-Videos produziert. Sogar Vice war mit denen mal unterwegs. Sie nennen sich «internationales Künstlerkollektiv» – und wenn man Yung Hurn aus dieser Perspektive betrachtet, ist er grenzgenial. 100 Jahre nach Ausbruch der Dada-Bewegung katapultiert er den Dada auf ein ganz neues Level. Wenn man seine Musik für bare Münze nimmt, ist er unerträglich. Ihn live zu sehen ist allerhöchstens aufgrund kultursoziologischer Gesichtspunkte verlockend. Denn irgendwie ist sein angenervtes Genuschel auf den Aufnahmen hintersinniger als sein Live-Geschrei. Und seine Videos reizvoller als sein Live-Auftritt.

Yung Hurn. Kunst verbindet

Angekündigt ist im Casineum ein 30-minütiges Set. Und tatsächlich: Um exakt 1.30 Uhr hüpft Yung Hurn auf die Bühne, und die Crowd kennt kein Halten mehr. Sie stürmt die Stage, bewaffnet mit Insta-Stories und offenen Snapchats. Sie will Content. Jetzt. Nach wenigen Minuten muss sich Hurn hinter's DJ-Pult verziehen. Fast wäre eine Schlägerei ausgebrochen. Show-Unterbruch.

Wollt ihr, dass die Show weitergeht? Habt ihr Bock auf Party? Habt ihr Bock auf Yung Hurn?
 

Zustimmende Schreie. Hurn kommt zurück, endlich oben ohne.

«Ok Cool» – chrzztsch – Mikrofon kaputt, ok cool. 

Ok cool
Zu Ablenkung drei Konfettibomben.

Ist die Mikro-Panne extra? Eingeplant in den performativen Akt? Oder wieso dauert es so lange, bis ein Ersatz herbeigeschafft wird? Inzwischen hat die ganze Crew ein Frotteetüechli um den Hals – kommt sie jetzt wirklich ins Schwitzen?

Ok Leute, geht gleich weiter.

Hurn kommt zum zweiten Mal zurück. Weiter geht's hiermit: (natürlich in einer Kurzfassung, denn Hurn weiss ganz genau, dass er gar nicht länger als zwei Minuten für einen Song verschwenden muss. Dabei sein ist alles!)

Dass Hurn hunderte Teenager dazu bringt, seine Kokain-Hymne «Bianco» mitzujohlen ...

(bitte aussuchen)

a) ... stimmt nachdenklich. Die Berührungsängste mit Drogen sinken immer weiter.

b) ... ist leider geil. Endlich ist sichtbar, wie kaputt die heutige Jugend ist.

c) ... ist irgendwie abartig. Checken die das überhaupt?

d) ... macht gar nix. Die Teenies sind nicht so dumm, wie man vermuten könnte.

«Denn sie wissen nicht, was sie tun» – Hurns Crowd diesen Vorwurf zu machen, wäre viel zu einfach. Denn wenn er weiss, was er tut, dann weiss es auch sein Publikum. Junge Menschen lechzen auch 2018 nach Tabubruch, nach Inspiration, nach Grenzüberschreitungen. Hurn gibt ihnen diese Plattform, füllt dieses Vakuum. Nur: Hurn ist nicht Hendrix, und das ist schade. Der Kulturhunger wird heute mit Produkten von viel geringerer Qualität gestillt als noch vor ein paar Jahrzehnten. Yung Hurn hat das verstanden, hält uns eigentlich Spiegel um Spiegel vor, lacht sich vielleicht Morgen für Morgen ins Fäustchen – denn seine Audience liebt Spiegel, anstatt sie zu zerschlagen. Sie liebt Selfies, will  unbedingt eins mit Yung Hurn, er nimmt geduldig Handy für Handy, lässt die Situation aufheizen, bis acht Sicherheitsleute ihn vor dem Publikum abschirmen müssen. Kalkuliertes Chaos.

Ey, Leute, danke, danke, danke...

Ok, einmal Zugabe noch, ja? Ja ja, ok.

Nochmal «Ok Cool». Nicht, dass er nicht noch mehr Songs hätte. Aber das ist der Song mit sieben  Millionen Views auf Youtube, eine Safe-Sache.

Danke Leute, war Bombe, ich liebe euch.

Von den 30 Minuten war Hurn vielleicht 20 Minuten sichtbar und hat davon 10 Minuten gesungen/gerappt/geredet.

YSL

Yung Hurn
So macht Live-Musik Spass.