Wucherndes Biotop der Gegenwartskunst

Halle 37, ehemaliges Mühlegebäude, NOVA-Areal Brunnen SZ, 24.06.2016: Labyrinthartige Gänge, bröckelnder Beton, kaputte Fensterscheiben, rostiges Metall, ausrangierte Elektroinstallationen, ein Kellergeschoss unter Wasser, Vogelnester, Taubendreck und jede Menge Staub machen die ehemalige Zementfabrik im Schwyzer Dorf Brunnen zum aussergewöhnlichen Ausstellungsort für zeitgenössische Kunst.

Bereits im Jahr 2012 war das Nova-Areal in Brunnen der Schauplatz der mittlerweile legendären Kunstausstellung «Die Fabrik ruft». Das stillgelegte Industriegelände hat sich in der Zwischenzeit radikal verändert; grosse Gebäudeteile wurden abgerissen und der Industriecharme droht zu verschwinden. Die Zwischennutzungen scheinen sich ebenfalls dem Ende zu neigen und es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis die Baumaschinen auffahren und das Areal in einen gentrifizierten Ortsteil verwandeln. Grund genug, die Räumlichkeiten unter dem Titel «Das Fabrikutop» nochmals mit zeitgenössischer Kunst zu füllen und zwar auf allen verfügbaren Galeriestockwerken und dem Kellergeschoss der Halle 37, dem vormaligen Mühlegebäude der Zementfabrik Holcim. Auf den rund 970m² – wo einst Gestein zu Kies verarbeitet wurde – versammeln sich über 70 Kunstwerke von nationalen Künstlerinnen und Künstlern.

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Die beiden Künstlerkuratoren Mischa Camenzind (*1974, Gersau) und Philipp Ehgartner (*1969, Luzern) haben zahlreiche Künstlerfreunde aus der Region und der ganzen Schweiz eingeladen, um vor Ort in der Fabrik zu arbeiten und auszustellen. Rund 90% der Kunstwerke sind speziell für die Betonfabrik gefertigt oder direkt vor Ort entstanden, wobei einige Kunstschaffende sich etliche Tage mit dem elaborieren ihrer künstlerischen Arbeit vor Ort beschäftigt haben. Auf allen fünf Stockwerken, von der Decke hängend und in verwinkelten Ecken sind Installationen, Malereien, Skulpturen, Fotografien und Videoprojektionen angebracht, die darauf warten, von den Besucherinnen und Besuchern entdeckt zu werden.

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Bereits im Aussenraum formieren sich einige Kunstwerke und nehmen die Gebäudefassade wie auch die umliegende Infrastruktur in Beschlag. Ein überdimensionales Vogelhaus, eine Abbildung symbolträchtiger Menschenhaut, eine gestapelte Reifenskulptur, ein Wegweiser ins Niemandsland und Wildplakatierung von Fotografien in Paste-up Technik geben einen Vorgeschmack auf das Innere des Fabrikgebäudes. Dessen Zugang erfolgt – neben einem ausrangierten Stationshäuschen – durch einen 30 Meter langen Tunnel. Rüttelnder Kies, zementgefüllte Socken und fluoreszierende Pilze begegnen einem bereits auf den ersten Metern, bevor man einen imposanten Durchblick über fünf Galeriestockwerke erhält.

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Hier – wo bereits Werbespots für Red Bull und Volvo gedreht wurden, die Schweizer Armee ihre Übungen mit Markiermunition durchführt und ein jährliches Technofestival stattfinden – existiert nachwievor die Ästhetik einer Innenarchitektur, die sich nach der industriellen Nutzung in einem Rohbau-Zustand befindet. Eine provisorische Grundinfrastruktur und SUVA-konforme Treppengeländer ermöglichen eine individuelle Entdeckungstour durch die Räumlichkeiten, welche sich mittels Gummistiefeln und eines festen Trittes auch im Kellergeschoss fortsetzen lässt. Aufsteigendes Grundwasser überflutet die unterste Ausstellungsfläche, die vornehmlich der Präsentation von Videoarbeiten gewidmet ist. Die dunklen Nischen, Gänge und versteckten Räume werden für die Projektion bewegter Bilder und Soundinstallationen genutzt.

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Auf den restlichen Ebenen befindet sich eine Vielzahl unterschiedlichster Werke der 62 teilnehmenden Künstlerinnen und Künstler. Formal nehmen viele Arbeiten direkten Bezug auf den Ausstellungsort, auf die vorhandenen Spuren und Elemente im Raum. Unter anderem trifft man auf ein riesiges Graphitpapier, das sich über die Stockwerke schlängelt, eine mit pigmentiertem Zement aufgetragene Wandmalerei oder eine Installation mit Fellen, die von der Decke hängend in den Boden eingegossen sind.

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Viele Künstlerinnen und Künstler nutzen die unkonventionelle und einzigartige Ausstellungsmöglichkeit für die Realisation experimentierfreudiger Arbeiten und variieren mit Materialität und Dimension. Holz, Beton, Styropor, Zement, Fell, Pigmente, Papier, Gummi, Keramik, Blache, Aluminium und Polyester sind nur einige Materialien, aus denen die Kunstwerke geschaffen sind. In der rohen Betonlandschaft tummeln sich allerlei Tiere – Gorilla, Pinguin, Fuchs, Hunde, Vögel und Versatzstücke von Rotwild, kombiniert mit einem Drahtesel. Auch der Mensch an sich bekommt innerhalb der Gruppenausstellung mehrmals sein Fett weg: Ob als götzenartige Schaufensterpuppe, als Requisiten einer «Altar Ego»- Installation oder mittels obszönem Blick in das menschliche Hintertürchen. «Das Fabrikutop» präsentiert sich als fruchtbarer Nährboden für die Umsetzung künstlerischer Praxis. Und so verwandelt die Ansammlung arrivierter Künstlerinnen und Künstler die alte Fabrikhalle für drei Wochen in ein wucherndes Biotop an zeitgenössischen Kunstpositionen.

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Die Ausstellung «Das Fabrikutop» ist noch bis zum 16. Juli 2016 geöffnet. Jeweils DO 17–22 Uhr, FR 17–02/03 Uhr, SA 14–02/03 Uhr, SO 11–22 Uhr Zahlreiches Rahmenprogramm auf www.dasfabrikutop.ch U.a. mit einem Konzert von Krankenzimmer 204, Soundperformance «Explore Error vs. Artjom» von Raffaele Franco und Tom Kuhn, Nicole Kammermann und Philipe Burrell «Of Queens And Rates», DADAGLOBAL, Supernova und an der Finissage eine Lesung von Pablo Haller, sowie eine Performance von Claudia Bucher u.v.m.