Wieso kennen alle Die Toten Hosen, aber nur wenige Die Goldenen Zitronen?

Der Musikfilmzyklus «Song and Dance Men» präsentierte gestern im Kino Bourbaki «Übriggebliebene Ausgereifte Haltungen». Eine unkonventionelle Rockumentary über eine unkonventionelle Punkband.

Wie in dieser Reihe üblich, gab es eine Einführung. Das ehemalige Mitglied Der Goldenen Zitronen – Nikolaus Hof – erzählte einige Anekdoten aus der Bandgeschichte. Doch zuerst fragte er die sechs anwesenden Besucher, ob sie die Band überhaupt kennen. Ein leises Nuscheln raunte durch den Saal. Herr Hof erklärte, dass bei der Vorführung in Zürich die meisten Besucher die Band nicht kannten, daher frage er nun jeweils vor dem Film nach.

Es folgte die Hauptanekdote mit Schweizer Hintergrund. Um eine Anekdote gut rüberzubringen, ist es erforderlich, dass der Zuhörer den Kontext versteht. Also erklärte Nikolaus Hof erst Einmal wer Jens Rachut ist. Jens Rachut ist der berühmteste Hamburger Punk. Als Sänger von Bands wie Angeschissen, Blumen am Arsch der Hölle, Dackelblut, Oma Hans und Kommando Sonne-Nmilch ist er eine feste Grösse im Deutschpunk (Die Aufzählung der Bandnamen ist inhaltlich überflüssig, aber zwingend notwendig. Der Name Kommando Sonne-Nmilch enthält keinen Rechtschreibfehler). Jedenfalls war Rachut ende der 80er-Jahre Roadie bei den Goldenen Zitronen. Beim letzten Konzert der Tour in Zürich wollte man ein bisschen Schabernack treiben. Also haben einige Mitglieder die Pyrotechnik auf der Bühne ein bisschen aufgemotzt. Leider wusste das der Rachut nicht. Er streute die Asche der Zigarette in den Pyro-Behälter und es gab eine Explosion. Das Gesicht von Jens Rachut blätterte dann die nächsten Tage allmählich ab, was ihm den Spitznamen «Die Fliege» einbrachte – bezogen auf den David-Cronenberg-Klassiker, der im Tourbus rauf und runter lief.

Der Film beginnt. Es wackelt auf der Leinwand, doch das stört niemand, ausser meinen Fasnachtskater. Die Goldenen Zitronen waren in den 80er-Jahren neben den Toten Hosen die Speerspitze des deutschen Funpunks. Mit dem Song «Am Tag, als Thomas Anders starb» gelang ihnen der Durchbruch. Mit freundlicher Unterstützung des Axel-Spriner-Verlags, der auf der Titelseite der «Bild»-Zeitung über diesen Skandal berichtete. Danach mussten die Single permanent nachgepresst werden. Deren damaliger Labelmanager, Fabsie Fabian, erzählt dies in einem belebten Club, aufgenommen mit dem Nachtsicht-Modus der Digitalkamera. Der Dokumentarfilm von Peter Ott schert sich um die gängige Ästhetik. Er war sich wohl bewusst, welch kritische Haltung die Auftraggeber inne haben. Einen Konzertfilm aus dem Jahre 2003 haben die Zitronen, wie sie unter Kennern genannt werden, völlig abgelehnt. «Die oft klassisch spielfilmisch gehaltenen Einstellungen vermeiden peinlich genau jedes Sichtbarwerden eines Autors.  Subjektivität ohne Subjekt, wo gibt's denn sowas?», liessen sie damals verlauten. «Übriggebliebene Ausgereifte Haltungen» zelebriert das Subjektive. Das Mikrofon schwappt des öfteren ins Bild, während Gesprächen wechselt die Kamera zeitweise die Position. Man ist Mittendrin in diesem Kosmos der Goldenen Zitronen. Wieso kennen alle Die Toten Hosen, aber nur wenige Die Goldenen Zitronen? Ende der 80-Jahre wurden den Zitronen des Funpunks immer mehr überdrüssig. Sie füllten zwar Stadien, aber immer mehr auch mit sogenannten Schnauzträgern. Sie mussten sich entscheiden, ob sie ihre Punk-Sozialisation leugnen wollten und zu einem Majorlabel wechseln, wie es die Toten Hosen vormachten, oder Gegensteuer zu geben. Es folgten personelle Wechsel und eine schicksalshafte Begebenheit. 1991 wurden sie in Hoyerswerda in einen Hinterhalt gelockt. Eine Horde Neonazis wollte den Tourbus auseinandernehmen. Ihr Fahrer Jens Rachut war schon ausser Gefecht gesetzt, da setzte sich der damalige Bassist Aldo Moro an den Lenker, der über keinen Führerschein verfügte, und manövrierte das Gefährt aus der Gefahrenzone. Seitdem fährt Rachut Tourbusse nur noch Rückwärts in eine Einfahrt, um schneller die Flucht ergreifen zu können. Die Zitronen wurden textlich politischer, die Musik stilistisch breiter. Im Gegensatz zu vielen Popbands waren die musikalischen Veränderungen nie nur dem Zeitgeist unterworfen. Vielmehr sind sie aus internen Grundsatzdiskussionen über Änsprüche der eigenen Musik entstanden. Diese Entwicklung schält der Film mit Archivmaterial, Interviews, dokumentarischen Aufnahmen und inszenierten Szenen heraus. «Übriggebliebene Ausgereifte Haltungen» ist roh und unruhig – genau wie die Zitronen. [youtube]http://www.youtube.com/watch?v=Mdn4wivR0Ik[/youtube]