Wider Heimatschutz und Burgfrieden

Die Pandemie hat die Kulturlandschaft in eine tiefe Krise gestürzt. Auch wenn Solidarität das Gebot der Stunde ist, muss die Kunst- und Kulturkritik ihrer Rolle gerecht werden.

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Illustration: Laura D’Arcangelo

Beiträge zu Kultur können zurzeit wenigen Kategorien zugeordnet werden: Event A ist abgesagt, Institution B zeigt etwas online, Künstlerin C postet etwas im Web, Kulturperson D macht irgendwas zu Hause. Redaktion X empfiehlt etwas für den Heimverzehr, Staat Y hilft Kulturschaffenden und leider immer öfter: Künstler Z ist verstorben.

Auch wenn diese Faktenwiedergabe der Dringlichkeit vieler Lebensrealitäten gerecht wird, fällt doch ein eklatanter Mangel an kritischen Besprechungen im Gegensatz zu reiner Kulturberichterstattung auf. Diese Lücken reihen sich nicht nur in die allgemeine Ratlosigkeit und nervöse Flickschusterei der Kulturszene ein, sondern lassen das allgemeine Selbstverständnis der Kritik in einem schlechten Licht erscheinen. Obwohl es improvisierte Zeitdiagnostik und nebulöse Küchentischsoziologie gibt, fehlen eindeutig die kritischen Besprechungen von Inhalten und Formen in der Flut von digitaler Ersatzkultur. Wenn all das dadurch begründet wird, dass nun einfach alle zusammenhalten müssen, will ich dagegen argumentieren. Wenn Kunst wirklich eine wichtige Rolle in dieser Gesellschaft spielt, muss Kritik heute vielleicht noch mehr als sonst ihrer Rolle gerecht werden.

Content ist nicht Journalismus

Wenn die Werke von Kunstschaffenden «das kritische Moment ästhetischer Erfahrung aufrechterhalten», bestünde nach der Philosophin Susan Buck-Morss die Aufgabe der Kritik darin, dies zu erkennen und anzuerkennen. Genau weil Kritikerinnen an die Potenziale von Kunst glauben, suchen sie die intellektuelle Auseinandersetzung mit künstlerischer Produktion. Nur deshalb fragen kritische Betrachtungen von kulturellen Inhalten, Formen und Vermittlungen nach Ansprüchen von Werken, ordnen sie in breitere Diskurse ein und stellen sie in einen (kunst-)historischen Zusammenhang.

«Keine Einordnung vorzunehmen, heisst im besten Fall noch, Kunst einfach nicht ernst zu nehmen.»

Was aber würden Kritikerinnen und Kritiker schreiben, wenn sie sich dem gegenwärtigen Content so ernsthaft nähern würden? Was würden sie sagen über die unzähligen Wohnzimmerkonzerte und -lesungen, wenn sie diese als Konzerte und Literatur ernstnehmen würden, anstatt auf ihre pure Existenz hinzuweisen? Alle Skepsis verschwindet, wenn etwas unkommentiert erwähnt wird, nur weil es ist. Die Stille der Kritik versteht sich so zwar als solidarische Unterstützung, ist aber doch eine tiefe Beleidigung kultureller Produktion, wenn sowieso bedingungslos alles akzeptiert wird. 

Keine Einordnung vorzunehmen, heisst im besten Fall noch, Kunst einfach nicht ernst zu nehmen. So sah das schon Theodor Adorno: «Wer alles schön findet, ist in Gefahr, nichts schön zu finden.» Im schlimmeren Fall wird in das gefährliche Lied eingestimmt, dass die schönen Künste primär der Ablenkung von existenziellen Krisen dienen. Kultur wird dann daran gemessen, ob sie ein ständiges Rauschen produziert, damit bloss niemand die Stille der Isolation und das stille Sterben merkt. Am schlimmsten wird es aber, wenn die Künste noch glorifiziert werden, weil durch sie näher zusammengerückt und als Kollektiv gewachsen werden könne. Mit der Soziologin Eva Illouz zeigt sich, dass solche Argumente und Kalendersprüche wie «Im Scheitern liegt eine Chance» mit dem Versprechen spielen, dass aus Krisen gestärkt herausgegangen werden kann. Zur Ideologie verkehrt wird daraus aber ein Gebot, das von Individuen und Kollektiven allerdings genau dies einfordert und jedes Versäumnis solcher «Chancen» bestraft. Keine Zeit für Trauer oder Traurigkeit, denn jede Krise muss sofort zur Optimierung ausgebeutet werden. Doch in welche Richtung geht diese «Stärkung» eines Kollektivs, wenn Kultur primär als Zeichen des Zusammenhalts gefeiert wird? Wenn dann medial vermehrt oder gar ausschliesslich auf einheimisches Kulturschaffen gesetzt wird, sieht Silvia Süess in der WOZ wohl zu Recht ein «Biotop für übersteigerten Patriotismus».

«Nicht mehr einfach die Existenz von einem Online-Angebot festzustellen, heisst konkret, nicht mehr jede Pseudoaktivität abzufeiern, sondern Kunstschaffende in ihrem Kunstschaffen ernst zu nehmen.»

Anstatt Kunst zur Beschäftigungstherapie und Kollektivierungsmaschine zu degradieren, kann künstlerische Produktion jedoch auch nach ihren Potenzialen im zivilisatorischen Ausnahmezustand abgetastet werden. Es braucht Argumente und Bewertungskriterien für kulturelle Produktion und Kulturinstitutionen, die weiter gehen als der grosse Mythos, dass Kunst doch einfach an sich gut ist. Nicht mehr einfach die Existenz von einem Online-Angebot festzustellen, heisst konkret, nicht mehr jede Pseudoaktivität abzufeiern, sondern Kunstschaffende in ihrem Kunstschaffen ernst zu nehmen.

Auch die digitale Präsentation von Kultur in der Krise kann dabei ernster genommen werden. Obwohl für viele Menschen moderne Kommunikationstechnologien immer noch – mit Angela Merkel gesprochen – «Neuland» sind, gibt es gerade unendlich viel Anschauungsmaterial für potenziell andere Aufführungs- und Vermittlungsformate. Wie beeinflusst die digitale Vermittlung den künstlerischen Produktionsprozess? Funktionieren bestimmte Gattungen und Genres vielleicht ganz gut über eine digitale Darbietung? Bieten sich neue Inklusionsmöglichkeiten für bestimmte Publikumsgruppen? Warum sollte ich mir noch zweitklassige Werke aus meiner Provinz anschauen, wenn ich mir am selben Bildschirm doch auch eine Ausstellung im New Yorker MoMA, ein Konzert in der Hamburger Philharmonie und einen Tanz im Moskauer Bolschoi-Theater anschauen kann? Vielleicht gibt es gute Argumente für das Lokale, aber diese gilt es herauszuarbeiten und nicht einfach zu behaupten.

Für mehr Distanz der Diskursorgane

Die Reaktionen der hiesigen Medienlandschaft auf die Krise verweisen noch auf tiefer liegende Probleme. Auf Initiative des Vereins Other Music Luzern verbreitet jetzt unter anderem 041 – Das Kulturmagazin auf seinen Social-Media-Kanälen die Reihe «Aus der Stube, in die Stube – Streaming is Caring». Jeden Abend gibt es eine Übertragung mit Zentralschweizer Kulturschaffenden zu sehen. 041 – Das Kulturmagazin wird zwar durch die Interessengemeinschaft Kultur Luzern (IG Kultur Luzern) herausgegeben, ist aber redaktionell unabhängig von dieser und nicht als das Zentralorgan der Zentralschweizer Kulturlandschaft misszuverstehen. Denn das Magazin bietet eigentlich nicht nur Berichterstattung, sondern auch kritische Besprechungen von Kulturproduktionen und institutionellen Vorgängen.

«Kritik kann ihrer Rolle nur gerecht werden, wenn sie auch institutionell die Distanz hält, immer wieder nachfragt und rücksichtslos kontextualisiert.»

Doch durch den Corona-Schock sind die Grenzen zwischen Produktion, Distribution und Diskurs auffällig schnell eingestürzt. Wenn ein kritisches Organ praktisch über Nacht zu einer Distributionsplattform wird, bleiben Kommentare, Nachfragen und Hintergründe auf der Strecke oder fallen nicht mehr so leicht. Wenn bei «Streaming is Caring» neben 041 – Das Kulturmagazin  auch «zentralplus», «frachtwerk» und «Radio 3fach» als Medienpartner agieren sowie spartenspezifische Interessensverbände und Berufsgenossenschaften wie «t.Zentralschweiz», «visarte Zentralschweiz», «Film Zentralschweiz» und «SAY HI!» mit an Bord sind, zeigt sich aber leider mehr als nur die imposante Solidarität der Zentralschweizer Kulturlandschaft.

Eine Kunstwelt zeichnet sich nach dem Soziologen Howard Becker durch unterschiedliche, spezialisierte Personalgruppen wie Künstlerinnen, Händler, Kuratorinnen, Zuschauer und Kritikerinnen aus. Erst durch eine Kooperation in diesem so diversen Kollektiv werden Kunstwerke produziert und mit Bedeutungen versehen. Da erst die verschiedenen und widerstreitenden Ansprüche dieser Personalgruppen künstlerische Entwicklung provozieren, kann ein Verschmelzen unter der Fahne des unbedingten Zusammenhalts zu intellektueller Faulheit und schamlosen Wiederholungen führen. Kritik kann ihrer Rolle nur gerecht werden, wenn sie auch institutionell die Distanz hält, immer wieder nachfragt und rücksichtslos kontextualisiert.

Es wäre doch eine atemberaubende Liebeserklärung der Kritiker an Kunstproduzentinnen, wenn ihre Arbeit nicht zum Ablenkungsmanöver, schalen Ersatz oder Kitt provinzieller Kollektive degradiert wird, sondern vielmehr geprüft wird, ob ihre Kunst den Anmassungen des Alltags etwas entgegenzusetzen hat.