Was der Krähenchor weiss

Die preisgekrönte Autorin wird mit «Ein von Schatten begrenzter Raum» ans Lettera – Literaturfest Luzern kommen. In ihrem neuen Roman feiert sie die grosse Zeit des deutschen Theaters, die kreative Aufbruchsstimmung und künstlerische Experimentierfreudigkeit, die das Europa der 1970er-Jahre prägte. Und sie erzählt vom Schmerz der Migration und vom Schreiben mit und zwischen zwei Sprachen. 

Als in der Suhrkamp-Vorschau für das Herbstprogramm 2021 ein neues, sehr dickes Buch von Emine Sevgi Özdamar angekündigt war, machte das Herz der Kritikerin einen Hüpfer. Denn «Ein von Schatten begrenzter Raum» erscheint nach einer langen Pause von fast zwanzig Jahren. Er erzählt vom Leben einer jungen Schauspielerin, die 1971, nach dem Militärputsch in der Türkei, mit Bertolt Brecht im Kopf nach Deutschland flüchtet, Teil der Berliner Theaterszene wird und später literarische Erfolge feiert. Der Roman orientiert sich, wie seine Vorgänger auch, eng am Leben Emine Sevgi Özdamars. Autobiografisch ist dennoch nicht das richtige Wort für die Kunst der Autorin, ihre ganz konkreten Erinnerungen, in denen auch reale Figuren wie Claus Peymann, Thomas Langhoff oder Benno Besson eine wichtige Rolle spielen, mit den unzähligen Geschichten zu verknüpfen, die in den Räumen zu entdecken sind, die sie ausmisst, bespielt und sprachlich auskundschaftet – und in den Schatten, die diese Räume umgeben. Denn mit dem von Schatten begrenzten Raum kann die Bühne gemeint sein, aber ebenso die Ränder der Erinnerung, die nicht fassbar sind. Darin stehen die Mauern alter Gebäude, und es wuseln die Tiere in den Schatten herum. Es lohnt sich, auch ihnen eine Stimme zu geben, wie der Roman eindrücklich beweist.

Pionierin sogenannter Migrationsliteratur
Doch zurück zur Suhrkamp-Vorschau und zu der aufgeregten Kritikerin. Die Aussicht, wieder ins vibrierend lebendige Universum dieser Autorin eintauchen zu können, weckte die Erinnerung an die 1990er-Jahre, als die Erzählungen und Romane Özdamars für die deutschsprachige Literatur einen neuen Horizont eröffneten. Heute gilt sie als Pionierin der sogenannten Migrationsliteratur, in der Schweiz auch «Literatur der fünften Landessprache» genannt, die wiederum längst zu einem essenziellen Element literarischer Diversität im deutschsprachigen Raum geworden ist.

 

Aus heutiger Sicht schämt man sich fast ein wenig für die damaligen Reaktionen auf Özdamars Texte.

 

Die frühen 90er waren noch die Zeit vor der Renaissance des Erzählens in der deutschsprachigen Literatur, und die Sehnsucht nach literarischer Intensität war gross. Das zeigte sich in der Begeisterung vieler Student:innen der Literaturwissenschaft für den magischen Realismus aus Lateinamerika. Dass es auch deutschen oder deutsch-türkischen magischen Realismus geben könnte, hätten sie sich nicht träumen lassen. Aus heutiger Sicht schämt man sich fast ein wenig für die damaligen Reaktionen auf Özdamars Texte – die Erzählbände «Mutterzunge» (1990) und «Der Hof im Spiegel» (2001) sowie die drei Bände der Berlin-Istanbul-Trilogie mit den zauberhaften Titeln «Das Leben ist eine Karawanserei, hat zwei Türen, aus einer kam ich rein, aus der anderen ging ich raus» (1992), «Die Brücke vom Goldenen Horn» (1998) und «Seltsame Sterne starren zur Erde» (2003). Nicht für den Enthusiasmus, der den Texten damals zu Recht entgegenschlug, sondern für den Orientalismus und die Exotisierung von Özdamars künstlerisch hoch ambitioniertem Projekt, die in vielen Rezensionen zum Ausdruck kamen. Besonders in den Kommentaren zum Ingeborg-Bachmann-Preis, mit dem sie 1991 ausgezeichnet wurde, war von «exotischer Kost» oder von einer «märchenhaften Türkeigeschichte» die Rede, und man mystifizierte das Andere, Fremde in den Texten, ohne sich davon herausfordern zu lassen. Es gab, das muss gerechterweise gesagt sein, aber auch Stimmen, die betonten, dass die poetische Kraft von Özdamar gerade nicht aus einem «orientalischen Fabulieren», sondern aus der leuchtenden Präzision der Wahrnehmung und der Arbeit an der Sprache heraus entstehe.

Die libertären 1970er-Jahre
Als Emine Sevgi Özdamar mit Mitte vierzig eine berühmte deutsche Schriftstellerin wurde, hatte sie bereits eine erfolgreiche Karriere als Schauspielerin in der Türkei und in Deutschland hinter sich. Vieles, was sie im neuen Roman erzählt, kommt den Leser:innen der Berlin-Istanbul-Trilogie bekannt vor, und doch liegen die Nuancen gerade in der Wiederholung, die immer schon zu den poetischen Prinzipien ihres Schreibens gehörte. Die Stimmung in Europa hat sich in den letzten zwanzig Jahren so sehr geändert, dass das wilde, kreative Theaterleben im späten 20. Jahrhundert nun in einem nostalgischen Licht erscheint. Doch gerade das dicke Buch Özdamars mit seinem Collage- und Variationsprinzip erschafft einen Raum, in dem das alles nicht vergangen und verloren ist, sondern höchst lebendig. Was ist, fragt man sich, aus der experimentierfreudigen Wildheit geworden, wo hat sie sich versteckt?

Was das Buch zu einem aufrüttelnden Erlebnis macht, ist auch der Rahmen, in dem sich der Künstlerinnenroman entfaltet. Auf einer türkischen Insel, die genau gegenüber der griechischen Insel Lesbos liegt, beginnt und endet der Roman. Es handelt sich um eine Insel, von der 1923 die türkischen Griechen nach Lesbos und Kreta transportiert und auf welche die griechischen Türken, die jahrhundertelang in Griechenland auf Lesbos und Kreta gelebt hatten, geholt wurden  – im Rahmen der Aktion «Austausch der Völker». Özdamar sucht nach der Sprache der Insel, indem sie die Mauern befragt, denn: «In diesen Häusern lagen sicher nicht nur diese türkischen Sätze, sondern in der Tiefe des Brunnens oder in den unteren Schichten der Hausmauern oder in den Zimmerdecken oder unter den Holztreppen, weit unten, lagen auch griechische Sätze, Stimmen von damals, denn bis 1922 und seit Homer hatten hier auf dieser Insel die türkischen Griechen gelebt.»

Sprachlosigkeit in Europa und fehlende Anerkennung
Auf dieser Insel reden auch die Tiere; sie sind sogar Quellen eines tieferen Wissens – und nerven die junge Frau damit ganz schön. Ein Moskito surrt ihr ins Ohr, vor allem aber kräht ihr ein Chor von Krähen unliebsame Wahrheiten zu, der den Roman durchziehen wird wie eine antike Tragödie. Als die Ich-Erzählerin sich fragt, ob sie nach Europa gehen soll, antworten sie und warnen vor der Sprachlosigkeit, die in Europa droht, vor der Ausländer:innenfeindlichkeit und dem begrenzten Interesse an Perspektiven, die von aussen kommen. Die Schauspielerin antwortet, sie sei doch Schauspielerin, hier wie dort: «Warum sollte es mir in Europa anders gehen als hier? Ich spiele hier Rollen, dort auch Rollen, Charlotte Corday hier, Charlotte Corday dort. Ophelia hier, Ophelia dort.» Doch die Krähen wissen es besser: «Wenn du gehst, gehst du als Charlotte Corday oder als Ophelia von hier fort und kommst dort in Berlin als Putzfrau an. […] auf einer deutschen Bühne ist eine türkische Frau eine türkische Frau, und eine türkische Frau eine Putzfrau.»

 

Als die Ich-Erzählerin sich fragt, ob sie nach Europa gehen soll, antworten sie und warnen vor der Sprachlosigkeit, die in Europa droht, vor der Ausländer:innenfeindlichkeit und dem begrenzten Interesse an Perspektiven, die von aussen kommen.

 

Eine Putzfrau spielt Emine Sevgi Özdamar tatsächlich einmal, als Provokation: In Thomas Langhoffs Inszenierung von Thomas Braschs «Lieber Georg» kam sie als schwangere türkische Putzfrau auf die Bühne und hielt den Zuschauer:innen den Spiegel vor. Doch obwohl Özdamar mit den wichtigsten Theaterleuten arbeiten kann, in Deutschland und in Frankreich, obwohl sie als Schriftstellerin gefeiert wird, behält der Krähenchor Recht, wenn er sie daran erinnert, wie sie wahrgenommen wird und wie viel die Europäer:innen noch zu lernen haben: «Du kannst in Europa vielleicht auch berühmt werden, vielleicht Schauspielerin oder Schriftstellerin, aber du wirst keine Ruhe finden. Sie werden dich loben und schreiben, dass du Pionierin der türkischen Künstler bist, dass du Aufklärerin der unterdrückten türkischen Mädchen bist, dass du eine Brücke zwischen der Türkei und Deutschland bist, dass du die einzige emanzipierte Türkin bist, dass du das beste Beispiel der Integration bist.»


Christine Lötscher ist Literaturkritikerin, Professorin für Populäre Literaturen und Medien und Herausgeberin vom Online-Magazin Geschichte der Gegenwart.

Emine Sevgi Özdamar
Ein von Schatten begrenzter Raum
Suhrkamp 2021
763 Seiten

Die Autorin liest am Lettera – Literaturfest Luzern
SA 12.03.2022, 19.30 Uhr
Neubad, Luzern

Lettera – Literaturfest Luzern
FR 11. bis SO 13.03.2022
Neubad, Luzern
www.literaturfest.ch


Text: Christine Lötscher
Bild: Suhrkamp Verlag

041 – Das Kulturmagazin im März 03/2022

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