Vom vielleicht langweiligsten Volksstamm der Welt

Der Schwabe, der Bewohner des Bindestrich-Bundeslands BadenWürttemberg, hat nicht unwesentlich dazu beigetragen, wie sich die Zentralschweizer Bevölkerung ihre Identität zimmert. Ein Blick über die Grenze – und auch ein bisschen in den Spiegel.

Illustration: Marina Lutz

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Winter 1996 in einer Schule in Süddeutschland. Ich sitze im Deutschunterricht und kritzle auf ein gelbes Reclamheft. Mein Lehrer zeichnet derweil mit Kreide eine eigenartige Form an die Tafel: Es ist der Vierwaldstättersee. Dann illustriert er die Lage der drei Urkantone. Auch Luzern ist ihm einen Kreidepunkt wert. Mir in meinem schwäbischen Klassenzimmer kam das damals sehr exotisch und vor allem unnötig vor. Ich wusste ja noch nicht, dass es mich einmal an genau diesen unförmigen See verschlagen wird. Dorthin, wo Spätzle Chnöpfli heissen und es keine Maultaschen gibt.

Paola Felix, DJ Bobo und Ovomaltine

Grund für den geografischen Exkurs vom Gymnasium im deutschen Bad Urach in die Innerschweiz war natürlich, dass sich der Schwabe Schiller diese Region als Schauplatz seines letzten Dramas ausgesucht hatte. Ausser bei Tell ist mir die Schweiz dann in der Schulzeit noch wegen Jeremias Gotthelf und Max Frisch begegnet. Und im Geografieunterricht als Land, in dem der Rhein entspringt. Ansonsten hat der südliche Nachbar – obwohl nur zwei Autostunden entfernt – in meiner Jugend keine grosse Rolle gespielt. Die grössten helvetischen Kulturimporte waren Emil Steinberger, Paola Felix, DJ Bobo und Ovomaltine. Andere Nachbarländer und Kulturen waren da schon deutlich spannender. Die Namen der Schweizer Kantone kennt man als Deutscher primär aus den Skiferien. Oder vielleicht noch den mit den drei Buchstaben aus dem Kreuzworträtsel.

Perspektivenwechsel: In der deutschsprachigen Schweiz sind einem Deutschland und dessen Kultur viel vertrauter, als es umgekehrt der Fall ist. Das hat vor allem mit der Grösse zu tun. Auf eine Schweizerin kommen schliesslich zehn Deutsche (bei Wolfsrudeln beträgt das Verhältnis sogar eins zu sechzehn). Und natürlich prägen auch das Fernsehen und die 400 000 Deutschen, die in der Schweiz leben, das Bild vom Nachbarland.

Deutschland ist nicht Berlin

Was hat man also im Sinn, wenn man südlich des Rheins an Deutschland denkt? Vor 40 Jahren hat sich der Schriftsteller Hugo Lötscher schon Gedanken zu dieser Frage gemacht. Des Schweizers Deutschlandbild umfasse vor allem Berlin, Hamburg oder vielleicht noch München. «Nur, dass es auch Stuttgart gibt, vergisst man gewöhnlich.» Diese Beobachtung gilt auch heute noch. Baden-Württemberg (mit seiner Hauptstadt Stuttgart) ist zwar Grenzland und Hauptreiseziel für Deutschlandtouristinnen aus der Schweiz. Für viele fängt aber dort, wo der Europapark aufhört oder man die Konstanzer Innenstadt verlässt, terra incognita an. Ausgehend davon möchte ich gerne einen kleinen Einblick in eine aus Schweizer Sicht nahe und dennoch fremde Kultur ermöglichen: Schwaben.

Der natürliche Lebensraum der Schwaben ist in etwa das ehemalige Königreich Württemberg, welches seit 1952 gemeinsam mit Baden (im Westen) und Hohenzollern (klein und irgendwo dazwischen) das Bindestrich-Bundesland Baden-Württemberg bildet. Dort leben die Schwäbinnen und Schwaben in ihren Eigenheimen mit Doppelgarage – Stichwort Bausparvertrag. Häufig in einer Stadt, die mit «–ingen» endet. Also etwa in Nürtingen, Reutlingen, Tuttlingen, Böblingen, Sindelfingen, Metzingen, Waiblingen, Plochingen oder Tübingen. Noch lieber zieht die Schwäbin aber nach Berlin, was bei den Hauptstädtern nicht immer auf Begeisterung stösst. Am wenigsten übrigens bei solchen Berlinerinnen, die selbst in den 1990er-Jahren ihr Elternhaus auf der Schwäbischen Alb mit dem Ziel Prenzlauer Berg verlassen haben. Vom «langweiligsten Volksstamm der Welt» ist in einem Artikel im Berliner Stadtmagazin «tip» die Rede – der Autor stammt natürlich selber aus dem schwäbischen Dialektgebiet. In anderen Teilen Deutschlands werden Schwaben häufig als geizig, wortkarg und vielleicht noch clever beschrieben. Hier ein kurzer, möglicherweise nicht ganz neutraler, Reality-Check:

Geizig

Tatsächlich ist das Verhältnis zu Geld – obwohl solches grundsätzlich vorhanden ist – im Schwäbischen ein besonderes. Jahrhundertelange Armut und ein strenger Protestantismus haben einen vorsichtigen Umgang mit Besitz gelehrt, was wiederum von Generation zu Generation weitergegeben wurde. Der Schwabe würde sagen, er sei sparsam. Geld ausgeben tut halt immer ein bissle weh. Vor allem wenn es für etwas ist, das nicht lange anhält. Anekdotisch möchte ich da vom Geschäftsreisenden erzählen, der kurz vor dem Rückflug nach Stuttgart seiner Frau am Telefon noch freudig das das Wichtigste mitteilte: «Faschd koi Geld braucht!»

Wortkarg

Die Erfahrung zäher Apéro-Gespräche in der Schweiz relativiert das Bild vom wortkargen Schwaben aus meiner Sicht deutlich. Schwäbische Schwätzer und Schwätzerinnen gibt es da schon eher.

Clever

Einstein und Hegel sprachen schliesslich schwäbisch und in Württemberg wurden Auto, Stofftier und Motorsäge erfunden. Auch arbeiten nicht wenige meiner ehemaligen Mitschülerinnen heute bei Unternehmen, die als «hidden champion» Dinge herstellen, auf die man erst einmal kommen muss (Präzisionsdüsen, Zylinderkopfdichtungen, Schneidwalzen für die Windelproduktion). Gegen das Bild vom cleveren Schwaben spricht hingegen die Tieferlegung des Stuttgarter Hauptbahnhofs.

Die Betrachtungen über Schwaben wären unvollständig, wenn es nicht auch um den Dialekt ginge. Schliesslich nutzt das Landesmarketing Baden-Württemberg in Deutschland schon seit Jahren erfolgreich den Claim: «Wir können alles. Ausser Hochdeutsch.» Für die Bearbeitung des Schweizer Marktes wird dieser Spruch sinnigerweise nicht verwendet. In weiten Teilen ist, wer schwäbisch spricht, dem Schweizer übrigens verständlich. Objektiv gesehen handelt es sich, wie auch bei den meisten hiesigen Mundarten, nicht um einen klangvollen Dialekt. Der Schwabe, der anderes behauptet, soll zur Strafe dreimal hintereinander die Worte «Ortskern» und «Hirschwurst» sagen.

Der Schwabe macht den Schweizer

Friedrich Schiller, der wohl auch zeitlebens stark schwäbelte, hat übrigens nie einen Fuss in die Schweiz gesetzt. Dennoch hat man ihm als «Sänger Tells» ein Denkmal im Urner Seebecken gesetzt und eines der fünf Dampfschiffe auf dem Vierwaldstättersee trägt seinen Namen. Gut zwanzig Jahre nach Schillers Tod machte sich dann im schwäbischen Leidringen ein Schreinergeselle auf dem Weg in Richtung Eidgenossenschaft: Johann Georg Blocher, dessen Ururenkel Christoph irgendwann ein Vorbild für gelungene Integration werden sollte. Wenn etwas in der Schweiz ganz besonders schweizerisch sein soll, braucht es vielleicht einfach Schwaben dazu.