Veronika hat nicht versagt

Theater Tropfstei, Ruswil, 31.10.2018: Die belastende Thematik des Romans «Veronika beschliesst zu sterben» wurde vom jungen Regisseur Robin Andermatt neu inszeniert und brilliert mit Kostüm, Bühnenbild und Schauspiel. «Was ist normal?» – «Bin ich normal?» – «Wer bestimmt, was normal ist?» – Diese Fragen sind auch 20 Jahre nach dem Erscheinen des gleichnamigen Buchs von Paulo Coelho noch aktuell.

Fotos: Jodok Achermann

«Willkommen in Villete, Welche Zimmernummer haben Sie? Aha, Nummer 25 im zweiten Stock auf der rechten Seite.» Die Besucher*innen werden von der Chefärztin Dr. Igorova der privaten Psychiatrie begrüsst. Das Publikum nimmt rechts und links der cleanen, weissen Bühne Platz und schaut auf eine junge Frau, die in der Mitte liegt. Sie trägt einen graublauen Overall und hat sie Hände auf dem Bauch gefaltet. Ist das Glitzern in ihren Augen eine Träne? Die von Dominic Röthlisberger komponierte Musik der drei Streicher*innen beginnt exzentrisch und taucht die Szene in eine spannungsgeladene Atmosphäre, die vom Wecker-Klingeln eines Smartphones unterbrochen wird. Jeden Morgen um die genau gleiche Zeit aufstehen, zur immer gleichen Arbeit gehen und den immer gleichen Kirchturm sehen, diese Routine ist Veronikas grösstes Problem; mit erst 25 Jahren ist sie in ihrem Dasein festgefahren und hat schon alles gesehen, alles gefühlt und ihr Leben hat seinen Reiz verloren. Darum beschliesst sie, zu sterben.

Tropfstei
Dr. Igorova sagt Grüezi

Veronika scheitert

Veronikas Selbstmord misslingt und sie erwacht in Villete, diesem cleanen, weissen Ort, rechts und links von zwei Türen gesäumt. Von den Bewohner*innen und der Chefärztin wird sie in Empfang genommen und sie verkünden ihr, dass ihr Herz von den geschluckten Tabletten so geschwächt sei, dass sie leider innert einigen Tagen doch sterben wird. Veronika hat demzufolge nicht versagt und doch geht es ihr zu langsam.

Gleich zu beginn gibt es eine Vorschau auf das Ende, welches die starke Erzählebene der Schauspieler*innen unterstützt. Die Geschichte der Selbstmörderin Veronika wird von den Insass*innen der Klinik nacherzählt und nachempfunden. Es entstehen bildhafte, sehr starke Szenen, zwischen denen man aber leicht den roten Faden der komplexen Geschichte verlieren kann. Obwohl einige der Besucher*innen bis zur Pause nicht ganz von der Geschichte gepackt worden sind, wird von der Inszenierung, den Kostümen von Angela Staffelbach und dem Schauspiel geschwärmt. Viele hoffen im zweiten Teil des Spiels auf eine Auflösung oder Auflockerung.

Tropfste

Experimentli

Die Auflösung kommt sogleich und sehr subtil per Telefon: Veronika wird nicht sterben, so der Plan von Dr. Igorova, denn «ohne Experimentli kein Fortschritt». Entspannung sucht man vergebens, denn auf der Bühne herrscht eine rasante Dynamik dank den verschiedenen starken wie auch subtileren Charakteren. Die jüngste Schauspielerin des Tropfstei-Ensembles ist 18 Jahre alt und der Älteste 88. Diese Altersspanne vermitteln ein authentisches Bild von Villete und es wird durch und durch gut gespielt. Besonders stechen die quirlige Zedga (Michelle Blum) und der schizophrene Eduard (Robert Pitachi) heraus. Pitachi spielt die psychische Krankheit so authentisch, dass man sich als Betrachter*in unwohl fühlt, wenn man ihn zu lange anschaut oder die Spuckespuren auf seinem Pullover mustert.

Tropstei

Widerständige Fluffs, zärtliche Wabbels

Verschiedene weisse Schuhe schlürfen, tanzen, stampfen und rennen über die Bühne und interagieren mit grossen, weissen fluffigen und wabbeligen Bühnenobjekten, die vom Regisseur bewusst nicht als «Kissen» bezeichnet werden. Auch wenn sie manchmal als Ruhestätte fungieren, sind sie fluide Requisiten, die zwischen schwerer Last und leichten Wolken hin und her switchen und mal handlich, mal sperrig sind. So wie das Päckchen, das alle im Leben herumzutragen haben; mehrmals wird Veronika darunter begraben. Das Bühnenbild der Szenografin Linda Vollenweider war ursprünglich etwas pompöser geplant, aber so umrahmt es leicht und luftig die schwere Thematik des Stücks.

Tropfstei

«Werde wieder normal!»

Klar wird, dass alle Menschen in ihrem Leben Theater spielen. Alle haben in ihrer Rolle zu bleiben, und falls doch einmal jemand aus der vorbestimmten Rolle fällt, wird man von der Gesellschaft ausgepfiffen und ab nach Villete gebracht. Doch entfalten sich hier neue Möglichkeiten, sich von den gesellschaftlichen Zwängen zu befreien und sich selber zu finden. Sehr gemütlich, weshalb viele der offiziell wieder geheilten Insass*innen Bund einer «Geschwisterschaft» wurden, die trotzdem bleibt. Der Fall der jungen, zum Tode verurteilten Frau lässt sie über ihr Dasein nachdenken und einige flüchten nun doch durch die Türe nach Draussen, zurück in die Realität. Kalte Luft strömt in den stickigen Raum und man möchte ihnen folgen. Einige gehen, einige bleiben.

 

Weitere Aufführungen am FR 2., SA 3., MI 7., DO 9., SA 10., SO 11., MI 14., FR 16., SA 17., SO 18., MI 21., FR 23. und SA 24. November

MI bis SA jeweils 20 Uhr, SO jeweils 17 Uhr

Weitere Informationen: www.tropfstei.ch und www.theatertropfstei.ch/index.php/zum-stueck