Utopie im Überall

Mit schwindelerregender Fabulierlust erschaffen Simon Meyer und David J. Krieger in Nienetwil ein Volk samt Sprache und Kultur – und damit auch Visionen, die es wert sein sollen, geglaubt zu werden.

Titelbild: Screenshot Nienetwil

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«Achtung, nicht alles auf unseren Seiten ist Unsinn!», steht auf der Homepage der Löffelburg. Das 1476 erstmals erwähnte Haus in Beromünster beherbergt das «Kantonsmuseum Luzern», das «satirische Museum in der Löffelburg». Petra und Simon Meyer, die das Haus besitzen, bewohnen und bespielen, treiben dort wie auch auf der dazugehörigen Webseite allerlei Schabernack. Ihr Schaffen deklarieren sie als «Kunst – Satire – Literatur – Geschichte». Ob die skurrile Kombination das Zentralschweizer Online-Magazin für Kultur und Satire «Kultz» inspiriert hat, das in den kommenden Monaten online gehen soll? Darum geht es hier nicht; doch ist das Abschweifen, das freie Assoziieren durchaus mitverursacht durch die Struktur des Projekts, von dem dieser Text eigentlich handeln soll: Nienetwil – Museum und Forschungsstätte für visionäre Vergangenheit. 

Ausgedacht haben sich das Projekt ursprünglich Simon Meyer und David J. Krieger. Krieger ist Philosoph, Sozial- und Religionswissenschaftler und waltet als Co-Direktor des Instituts für Kommunikation und Führung in Luzern – ein Wissenschaftler also, der es durchaus ernst meint mit seinen Forschungsprojekten. Auch Simon Meyer, der eine Ausbildung zum Schmied absolviert hat, ist neben seiner Tätigkeit als Co-Direktor des Kantonsmuseums Luzern in weitgehend satirefreien Berufsfeldern aktiv – als selbstständiger Fotograf und Geschäftsleiter der Stiftung Fotodokumentation Kanton Luzern (Fotodok).

«Alles, was hier über Nienetwil erzählt wird, ist in der ‹Wirklichkeit› genügend verankert, an die Wirklichkeit angelehnt, mit der Wirklichkeit vermischt, dass es nicht nur glaubwürdig ist, sondern auch glaubenswert.»

David J. Krieger

Der Keim, aus dem Nienetwil nun wächst, sollte ursprünglich ernsthafter daherkommen, als sich das Projekt gegenwärtig entwickelt: Ende 2004 lag das Konzept «Schweizerisches Kompetenzzentrum für historisches Handwerk» auf dem Tisch des Bundesamts für Wirtschaft (SECO) und startete 2005 im Rahmen des Regionalen Wirtschaftsförderprogramms (NRP), schreibt Meyer über die Wurzeln in den im vergangenen Oktober publizierten «Cahiers de recherches de Nienetwil (CRN)». Er selbst brachte durch seine Tätigkeit in der experimentellen Archäologie und in der Paläontologie viel Wissen und Geschick mit. Ziel war es, aussterbendes handwerkliches Know-how und entsprechende Fertigkeiten in die Zukunft zu retten. «Hauptsächlich ging es im Projekt um die Förderung des Handwerks, indem man dabei half, Handwerker und Handwerkerinnen mit Fachleuten aus den Bereichen Design, Produktentwicklung und Marketing miteinander zu vernetzen», erläutert er weiter. Was aussieht wie ein waschechtes wissenschaftliches Magazin, entpuppt sich als verspieltes, verschachteltes, mal sperriges, dann wieder intuitiv zugängliches Nachdenken über visionäre Vergangenheit. 

Über ein Wiki auf nienetwil.ch sind die gedruckten Forschungsergebnisse weltweit zugänglich, wachsen weiter, laden ein zum Spazieren durch das nach und nach entstehende Paralleluniversum. Weil da so vieles offensichtlich der überbordenden Fantasie der Urheber der Seite entspringt, fällt es zuweilen schwer, die weniger offensichtlichen Fälle von Fantasie von der Realität zu unterscheiden – und das ist durchaus gewollt. «Alles, was hier über Nienetwil erzählt wird, ist in der ‹Wirklichkeit› genügend verankert, an die Wirklichkeit angelehnt, mit der Wirklichkeit vermischt, dass es nicht nur glaubwürdig ist, sondern auch glaubenswert», schreibt David J. Krieger über die Utopie, die da entsteht. 

Nienetwil, das ist nirgendwo, und daraus folgern die beiden Herausgeber der Gedanken: überall. Die parallel zu uns gedachte Gesellschaft verfügt gar über eine eigene Sprache: Auf der Webseite kann man sich in die Skandaj-Sprache (Eigenbezeichnung Alaju) vertiefen, Hörbeispiele vergleichen und den Wortschatz studieren der Sprache, die sich aus Wortstämmen und Idiomen aller bekannten Sprachen der Welt zusammensetzt. Unklar bleibt, ob nun Skandaj zuerst da war oder die anderen Sprachen – ein Gedanke, an den unzählige andere anknüpfbar sind. All das Nachdenken über die Sprache der Nienetwiler, ihre Kultur und Artefakte, diese fiktive Vergangenheit, die es über Visionen zu erschliessen gilt, verfolgt letztlich ein visionäres Ziel: Antworten finden auf die Frage, welche Zukunft wir wollen.

Nienetwil ist erkundbar unter www.nienetwil.ch
Oder auf Papier in den Cahiers de recherches de Nienetwil (CRN), bestellbar via Web.