Trendwort «Diversity»

Ist klassische Musik divers? Das Lucerne Festival will mit seiner diesjährigen Ausgabe beweisen, dass dies sehr wohl der Fall ist. Problematisch wird es jedoch, wenn die Vielfalt nur gegen aussen gelebt wird.

Auch diesen Sommer avanciert Luzern anlässlich des Lucerne Festival während fünf Wochen zur Hochburg für klassische Musik. Thema der diesjährigen Ausgabe: «Diversity». Der Begriff thematisiert gesellschaftliche Machtverhältnisse in Verbindung mit zugeschriebenen Kategorien, darunter etwa Alter, Herkunft, Geschlecht und Geschlechtsidentität oder sexuelle Orientierung. Als solcher fand er in den letzten Jahren immer häufiger Eingang in Leitlinien, Manifesten und Programmen kultureller Veranstaltungen. Eine Entwicklung, die eigentlich zu begrüssen ist. Eigentlich. Doch wenn sich Unternehmen nur aus werbetechnischen Gründen mit antirassistischen, feministischen oder queeren Bewegungen solidarisieren, verkommt «Diversity» zur reinen Marketingstrategie, die gut für das Image und den wirtschaftlichen Erfolg ist. Ein gängiges Phänomen ist beispielsweise Pinkwashing: Hier zeigen sich kommerzielle Organisationen gegen aussen in Regenbogenfarben und geben somit Solidarität mit queeren Communities vor, ohne diese aber tatsächlich zu unterstützen oder Diversität in den eigenen institutionellen Strukturen abzubilden.

Diversity als Motto

Für Michael Haefliger, seit Ende der 1990er-Jahre Intendant des Lucerne Festival, steht Diversität für Offenheit und Toleranz. «Dies vor allem gegenüber Minderheiten – sowohl in Bezug auf Hautfarbe und Herkunft als auch auf Gender», erläutert er im Gespräch. So hat das Festival in diesem Jahr getreu seinem Motto vor allem People of Color und Frauen mehr Platz eingeräumt. In einem Feld wie der klassischen Musik, das vor allem weiss und mehrheitlich männlich geprägt ist, ein wichtiger und längst überfälliger Schritt. Der Entscheid, beispielsweise die britische Kontrabassistin Chi-chi Nwanoku einzuladen, die sich mit Chineke! Orchestra unter anderem für mehr Berufsmöglichkeiten von People of Color und Schwarzen Musiker:innen einsetzt, ist grundsätzlich zu begrüssen. Allerdings betont Nwanoku gegenüber dem NZZ Magazin: «Wenn Orchester wie Chineke! nur zu einem Festival eingeladen werden, weil dort das Motto ‹Diversity›  ist, würde das selbstverständlich als scheinheilige Geste angesehen.» Sie fügt an: «Der Gegenbeweis kann nur durch den weiteren Fortgang dieser Zusammenarbeit und deren Langlebigkeit erbracht werden.»

Das scheint auch Michael Haeflinger klar zu sein. «Es handelt sich um einen fortlaufenden Prozess und nicht alles kann mit einer einzigen Ausgabe gelöst werden», erklärt er. «Wir möchten auf das Thema ‹Diversity› aufmerksam machen und die Menschen, die unsere Veranstaltungen besuchen und unsere Plakate sehen, zum Nachdenken anregen. Es ist ein Statement.»

Das «Thema» People of Color

Mit Plakaten und dem Engagement von mehr People of Color und Frauen im Programm ist es aber nicht getan. Denn so sehr die Schachfigur des Königs auf dem Plakat torkeln mag und sinnbildlich für das bislang mehrheitlich männliche Programm steht, das langsam ins Wanken gerät, so fest sitzt Michael Haefliger selbst seit 23 Jahren als alleiniger Intendant des Lucerne Festival im Sattel. Auch der Blick hinter die Kulissen offenbart, dass das Team, abgesehen vom Geschlechterverhältnis, nur bedingt divers oder, anders gesagt, ein sehr weisses ist. Auf die Frage, inwiefern auf institutioneller und struktureller Ebene bereits Massnahmen getroffen wurden, welche die bestehenden Machtverhältnisse hinterfragen, sagt Haefliger: «Zum Thema ‹People of Color› ist intern noch wenig geschehen. Es wird sicherlich interessant sein, wie sich das verändern wird. Ich glaube aber, dass wir auf dem richtigen Weg sind.» Es bleibt abzuwarten, wie genau sich das «Thema» People of Color entwickeln wird.

Bis es so weit ist, bleiben Bestrebungen nach mehr Vielfalt im Falle des Lucerne Festival ein zweischneidiges Schwert. Auf der einen Seite vermag das Festival dank seiner Bekanntheit dem Thema zu mehr Sichtbarkeit zu verhelfen und die Vielfalt in der klassischen Musik durch entsprechende Engagements von People of Color und Schwarzen Musiker:innen abzubilden. Das ist richtig und wichtig. Finden solche Bestrebungen auf der anderen Seite aber nur gegen aussen statt, wirft das die Frage nach ihrer Glaubwürdigkeit auf. Diversität und Inklusion müssen als Grundsätze verstanden werden, um gesellschaftliche und historisch gewachsene Machtverhältnisse zu erkennen und aufzubrechen. Aus diskriminierungskritischer Perspektive ist dies sogar unabdingbar. Ansonsten besteht die Gefahr, dass «Diversity» ein reines Trendwort bleibt, das nur dem gewinnorientierten Unternehmen dient. Denn antikapitalistische und widerständige Bewegungen werden allzu oft von kapitalistischen Logiken vereinnahmt.

 

Lucerne Festival
Bis SO 11. September
Diverse Orte, Luzern

 


041 – Das Kulturmagazin September 09/2022

Text: Valérie Hug

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