Totenmahl und Fieberwahn

Luzerner Theater, 30.01.2019: Mit «Schuld» und «Sühne» bringt das Estnische Regie-Duo Tiit Ojasoo und Ene-Liis Semper zwei komplett verschiedene Stücke aus der Welt von F.M. Dostojewskis Roman nach Luzern. Fragen nach Gerechtigkeit und dem eigenen Platz in einer leidvollen Welt. Beklemmendes Leid, ein fiebriger Wahn.

 

(Fotos: Ingo Höhn)

1866 schrieb Dostojewski «Schuld und Sühne», einen der grossen Romane der Weltliteratur (in neueren Übersetzungen als «Verbrechen und Strafe» übersetzt). Über den jungen Rodion Raskolnikow, der den Entschluss fasst, einen Mord zu begehen und danach in einen Fieberwahn verfällt. Es geht um Fragen nach dem Warum, und ob es etwas wie aussergewöhnliche Menschen gibt, die ausserhalb des Gesetzes stehen. Es geht um das Leiden an der Ungerechtigkeit, die Suche nach Auswegen.

Zum ersten Mal ist das preisgekrönte Estnische Duo Tiit Ojasoo und Ene-Liis Semper in der Schweiz und zeigt zwei Geschichten aus zwei komplett unterschiedlichen Perspektiven. Ihr Konzept: Sie inszenieren Dostojewskis Roman im Luzerner Theater auf zwei Bühnen.

Sühne in der Box

Auf den Stühlen liegen Einladungen zu einem Totenmahl. Die Gäste setzen sich an den bescheidenen, aber gut gedeckten Tisch. Für Überzählige stehen Stühle bereit. Die Gastgeberin, frisch verwitwete, schleift sich durch die Menge. So fängt «Sühne» in der Box des Luzerner Theaters an. Die Handlung lehnt sich an ein Kapitel des Romans an. Der Fokus liegt dabei auf einer Figur, die zwar keine grosse, aber dafür umso traurigere Rolle hat. Katerina Iwanowna Marmeladowa (Annamária Láng) hat soeben ihren Mann verloren, der nach einem Unfall verstarb. Marmeladowa stammt ursprünglich aus gutem Hause, ist aber jetzt ohne jeglichen Besitz, weil ihr Mann alles versoffen hatte. Da sie selbst krank ist, kämpft sie mit ihrer neuen Position in der Welt. Einer Welt, die ihr nur immer mehr zu nehmen scheint. Es geht um ihre Verzweiflung, um ihre Einsamkeit unter all den Menschen um sie herum, um ihre Hoffnung, dass es so etwas wie Gerechtigkeit doch geben müsse.

«Sühne» startet langsam, etwas träge und steif, steigert sich dann aber rasant, und steuert auf sein unausweichliches, ungerechtes Ende zu.

Suehne

Die ungarische Schauspielerin Annamária Láng steckt alles in diese Figur. Sie leidet, weint, schreit, trauert, trinkt und hasst. Man ist hautnah bei ihrem manischen Abstieg in die Verzweiflung dabei. Man fühlt mit ihr mit, wenn sie die Urne des Verstorbenen eng an ihre Brust presst, wenn ihre Krankheit sie überkommt. Der Akzent der Ungarin lässt sie unter all den Gästen noch fremder erscheinen, betont wie alleine sie sich fühlen muss. Lángs Darbietung ist absolut fesselnd.

Schuld auf der Bühne

In dem Moment in dem Raskolnikow (Lukas Darnstädt) im Theatersaal die Bühne betritt, wird klar, dass hier etwas ganz anderes zu sehen sein wird als in der Box. «Schuld» beginnt mit dem Mord, den der junge Raskolnikow an einer Pfandleiherin und deren Schwester begeht und sofort in einen fiebrigen Zustand verfällt.

In einem überwältigend detaillierten Bühnenbild, einer Wohnung, die aussieht, als ob dort tatsächlich jemand wohnen könnte, folgt das Publikum Raskolnikows psychischem Kampf. Mit dabei ist eine Kamera, die von Hand zu Hand geht, und so live Bilder auf eine Leinwand projiziert, die mitunter sehr interessante Blickwinkel und Perspektiven vermitteln.

SchuldRas

Wer aber eine ähnliche Stimmung wie bei der Vorstellung in der Box erwartet, wird schnell eines Besseren belehrt. Denn was hier gezeigt wird, ist nicht das Leiden einer Witwe, sondern der Wahn eines Mörders. Es ist Raskolnikows Perspektive, mit all seinen subjektiven Interpretationen und Ängsten. So ist das Spiel des Ensembles zuerst irritierend bizarr, bis man sich auf diese Sicht einlassen kann.

Darnstädt spielt nicht einen dunklen, vor sich hin brütenden Raskolnikow wie im Roman, sondern einen verwirrten, überforderten, zappeligen, kindlichen, seine Ängste im Körper tragenden Protagonisten. Auch die anderen Figuren sind überspitzt, und sehr körperlich. Stilisierte Projektionen davon, wie Raskolnikow sie im Fieber sieht. Das funktioniert manchmal besser, manchmal weniger gut. Im weniger guten Fall ist es nur irritierend, und so hat man den Eindruck, dass manche Figuren nur wenig bis gar nichts Bedeutendes zu tun haben. Aber wenn es klappt, ist es grossartig.

SchuldSonja

So sind die Leistungen von Sofia Elena Borsani und André Willmund besonders hervorzuheben. Borsani spielt die Prostituierte Sonja. Wie ein Roboter mit einer unnatürlichen Stimme, mechanischen Bewegungen, eine Maschine, die Gestik und Mimik nur als Programm einstudiert hat. Eine Fassade, bei der echte Emotionen wie ein Glitch nur ganz kurz an die Oberfläche durchdringen. Willmund fesselt als ermittelnder Staatsanwalt Porfirij. Mit wissendem Blick, und schmierigem Lächeln wirkt er bedrohlich, nur um dann wieder ganz freundschaftlich zu werden, und dann wieder völlig übertrieben höhnisch. Cooler Ermittler und gemeines Arschloch. Und immer im Raum, die Frage, ob er Raskolnikow überführen kann oder nicht.

«Schuld» und «Sühne» sind zwei sehr verschiedene Stücke, die sich nur tangieren, aber dennoch zueinander gehören. Fesselnde Darbietungen, kreative Bilder, und eine zeitlose Geschichte laden dazu ein, sich mit dem Leid und Wahn, von dem Dostojewski schon vor über 150 Jahren erzählt hat, einzulassen.

Die beiden Stücke können einzeln oder gemeinsam besucht werden.

Gemeinsam noch sieben Mal: SA02.02, FR 08.02, SA09.02,  FR 15.02, SO 17.02, FR 22.02, SA 24.02

Mehr Informationen unter: https://www.luzernertheater.ch/suehne

https://www.luzernertheater.ch/schuld