Tarkowskij tanzen

Mit der Adaption «Fürchtet euch nicht» (kein Ausrufzeichen) gibt Verena Weiss ihre Abschiedsvorstellung als Tanzdirektorin am Luzerner Theater. Inspiration bildet der Film «Stalker» (1979) des russischen Regisseurs Andrej Tarkowskij. Vor Anbruch des Tages getippt von Tanzfreund.

Zwischen Tarantino und Tashlin stehen die Filmbücher zu Tarkowskij. Falsch, beim Genauerhinsehen: Es sind Bücher von Tarkowskij selber, einmal die zu Kunst, Ästhetik und Poetik des Films gesammelten Gedanken «Die versiegelte Zeit» (1985) sowie die unter dem Titel «Martyrolog» postum erschienenen Tagebücher 1970–1986 (1989). Im 1985er-Buch steht auf Seite 223: «Als dann unsere Helden an ihr Ziel gelangen, nachdem sie viel erlebt und viel über sich nachgedacht haben, da können sie sich nicht mehr dazu entschliessen, die Grenze dieses Zimmers, zu dem sie sich unter Lebensgefahr aufgemacht hatten, auch wirklich zu überschreiten. Sie sind sich plötzlich bewusst geworden, dass ihr innerer moralischer Zustand letztlich geradezu tragisch unvollkommen war. Sie haben in sich nicht genügend geistige Kräfte gefunden, um an sich selbst zu glauben. Ihre Kraft reichte lediglich dazu, einen Blick in sich selbst zu werfen. Und der liess sie zutiefst erschrecken!»

Tarkowskij, Andrej, geboren 1932, gestorben am 29. Dezember 1986 in Paris: Der Aussenseiter, im Sowjet-System eh geächtete Autorenfilmer, über dessen Werke sich westliche Filmkritiker regelmässig allzu gerne zu allerlei Hirnschwurbeleien hinreissen liessen. Charakteristisch für Tarkowskij ist eine hermetische, enigmatische Filmbilderwelt. «Stalker» will auf keinen Fall als Allegorie verstanden sein, sein Film verweist im Selbstanspruch nicht auf etwas, das ausserhalb gültig ist. Es ist ein apokalyptisches Szenario, angezeigt auch durch Motive aus der Johannes-Offenbarung. Nach dem Ende der Welten sozusagen (Krieg, Industriekatastrophe, Umweltunfall, Meteoriteneinschlag?) liegt in einer geheimnisvollen «Zone», in unwirtlicher und unwirklicher Landschaft, eine Stelle; wer das Zimmer betritt, wem es überhaupt gelingt, es zu tun, dem sollen seine wirklichen, geheimsten Wünsche in Erfüllung gehen. Drei Menschen, nachdem sie sich von der Aussenwelt verabschiedet haben, machen sich auf in die «Zone», wie man aus dem Film weiss (und wie man akustisch erahnen kann im Tanztheater) per Draisine. Es sind der Schriftsteller und der Professor, zusammen mit der Titelfigur, dem «Stalker», der sich auskennt und der die beiden führt.  Tarkowskji, für unsere jüngeren Zuschauer, das ist der Regisseur von teilweise heute noch kultisch gehandelten Filmen. Namentlich, um mit dem ersten und allerbesten zu beginnen: «Iwans Kindheit» (Debüt von 1962, in Cannes gleich mit der Goldenen Palme ausgezeichnet). Im Weiteren: «Andrej Rubljow» (1966); «Solaris» (Stanislaw-Lem-Verfilmung 1972; Remake mit George Clooney, Regie: Steven Soderbergh, 2002); «Serkalo» (Der Spiegel, 1975); «Stalker» (1979) nach Motiven eines Textes der Science-Fiction-Autoren-Brüder Arkadi und Boris Strugatzki; «Nostalghia» 1983; «Offret» (Opfer, 1986). Erschliesst sich uns nun auch das Tanztheater mit dem Titel «Fürchtet euch nicht»?

 

Natürlich vertraut es vornehmlich auf das Darstellungsmittel Tanz, auf die bisweilen berückenden Bilder (Bühne: Birgit Angele; Licht: David Hedinger), auf Musik (mit Samples arbeitende Kompositionen von David Morrow, hörbar werden u.a. armenische Chorgesänge), die Kostüme nicht zu vergessen (etwa die wunderbare Szene mit den in sich selbst raschelnden Tellerröcken; Kostüme: Gabi Rahm). «Fürchtet euch nicht» verzichtet aber nicht auf das gelegentliche Einspielen von Original-Textdialogstellen aus dem Film (deutsche Synchronfassung). Wenn man es nur (akustisch) verstehen könnte! Die Bühne: Hinten eine Art rohe Riesentische, die ganze Szenen-Anlage ist durch den entsprechenden Fluchtpunkt schräg-verzogen. Im vorderen Bühnenteil ein Stück Natur in Form eines Streifens «Taiga-Gras» (so eine botanische Vermutung). Die Tanzfiguren sind ansprechend, Wälzen im Knäuel, Taumeln zu einem Marsch, derwischmässiges Kreisen, einmal ist es soweit, dass alles rennet, rettet, flüchtet, zwei schöne nackte Beine durchqueren hinten die Breitseite in Zeitlupe. Die Figur des Schattens (sie leuchtet den übrigen einmal ganz beeindruckend in sonstiger Finsternis mit einem mobilen Handscheinwerfer) ist zu quirligen Verrenkungen fähig. Es tanzen: Alessandra Defazio, Karen Ilaender, Ha Young Lee, Cecilia de Madrazo Abad, Marta Zollet, Tommaso Balbo, Sungjae Jun, Andrea Mirabile, Konrad Stefanski. Aber eben die Fragen: Kommt man draus? Kann man draus kommen? Ohne Kennntnis der Filmhandlung, ohne Konsultation des Programmheftes? Und ist es mit 75 Minuten nicht ein wenig zu lang, das Ganze (vor allem in der zweiten Hälfte)? Ich frage ja nur. Was bleibt, Ausgehtipp: Danach ein Bier oder zwei oder drei oder vier trinken gehen in die «Zone 5». Aber nur, wenn der FCL nicht wieder verloren hat.

«Fürchtet euch nicht», Tanztheater von Verena Weiss. Luzerner Theater,  8., 11., 14., 20., 22. 27. 3., 19., 29., 30. 4., 3. 5. (www. luzernertheater.ch)