SPACE CALL #1: Die Bühne ist auf dem Teppich

Industriestrasse 9, Samstag 15. Dezember 2012. Der Geist der Industriestrasse sorgt seit kurzem wieder im Kellergewölbe an der Hausnummer 9 für Furore. Es finden wieder regelmässig musikalische Entdeckungsreisen im Untergrund statt.

Erst kürzlich hat sich das Quartier um die Industriestrasse erfolgreich gegen den Verkauf des Areals gewehrt. Mit dem JA! für eine lebendige Industriestrasse hat das Luzerner Stimmvolk ein klares Signal für die alternativen Kreativen und die kreativen Alternativen gegeben. Was an der Urne gewonnen wurde, soll nun auch in die Realität umgesetzt werden. Ein sehr vielversprechender Anfang, oder besser formuliert, eine formidable Weiterführung bieten die verschiedenen Konzerte in den etwas gewöhnungsbedürftig riechenden, aber durchaus gemütlichen Kellerräumen der Industriestrasse 9. Wer seinen Horizont über die Bar 59 hinaus richtet und auf halbem Weg zum Speiselokal Grottino 1313 links abbiegt, der gelangt in einen kleinen Vorgarten, quasi das Tor zum eigentlichen Konzertlokal, gefühlte zehn Meter unter der Erde. Moderate Eintrittspreise, ein kleines WC, ein Tischfussballtisch und neuerdings sogar zwei (!) Bars sorgen für das Wohlbefinden der Gäste. Am Samstagabend lud das luzernerische Fischermanns Orchestra mit dem Kick-Off für ihre neue Konzertreihe SPACE CALL zu einem abendfüllenden Programm ausgelesener Worldmusic, Balkanbrass und Reggae-Beats. Die Organisatoren selbst waren es dann auch, die den offiziellen Startschuss für einen feuchtfröhlichen Abend gaben. Plötzlich strömten aus allen Ecken diverse Musiker Richtung Bühne, die für diesen Anlass nur aus einem kleinen, runden Bettvorleger bestand. Fleissig wurden Posaunen, Trompeten und Saxophone ausgepackt und nach einer rituellen Einschwörung formierte sich das Fischermanns Orchestra halbkreisförmig um den besagten Teppich. Schnell schnappte man sich noch ein Bier bei der improvisiertesten Bar Luzerns, bei welcher man das Gefühl hatte, der goldene Gerstensaft werde hinter den Tresen erst noch fertig gebraut. Die Mitglieder des Fischermanns Orchestra, in ihrer Anzahl stolze 14 Leute (nein, der Autor sah [noch] nicht doppelt), gaben von der ersten Sekunde an Vollgas und liessen die zahlreich erschienenen Besucher in den Konzertraum pilgern. Wechselnde Formationen, Solisteneinlagen und Duette sowie unterschiedliche Musiker als Orchester-Dirigenten präsentierten einen vitalen und teilweise improvisiert wirkenden Mix aus Worldmusic, Jazz und Experimental. Mal hatte man das Gefühl, Zach Condon, Frontmann der Musikgruppe Beirut hält das Zepter in der Hand oder man sei in ein Elektro-Swing Setting von Parov Stelar reingeplatzt. Der zweite Song des Abends, Wellengang, begann nach einer pausenlosen, dreissigminütigen Darbietung und setzte sich in der Manier von balkanartiger Filmmusik (z.B. Filme von Emir Kusturica) fort. Der Griff zum Megaphon durfte natürlich ebenso wenig fehlen wie der rhythmische, stark an Scat anmutende Gesang. Ein doch etwas seltsames Nebenprodukt gestaltete eine junge, am Freitag von den Indianern zurückgekehrte, Fischerfrau (so nennt die Band ihre Mitglieder und Zugewandte), die quasi simultan eine Art Live-Malerei-Performance aufführte. Auch wenn das Resultat, eine Art nomadische Höhlenmalerei, mehr Fragen aufwarf als Antworten lieferte, konnte über das Vorhandensein eines ausrangierten Flugzeugpropellers noch mehr gerätselt werden. Die Band verabschiedete sich standesgemäss nach einer energiegeladenen und definitiv mittreissenden Show, nur um sich sogleich unter das Publikum für das angekündigte Dexter Doom and The Loveboat Orchestra zu mischen. Ordentlich im 2-tone Stil gekleidet, das heisst weisses Hemd, schwarzer Anzug und Krawatte wie auch Hut mit Schachbrettmuster und Sonnenbrille für die Herren und ein Sailor Moon Kostüm für die Dame, knüpften die neun Musiker aus Basel an die vorhergegangene Tanzparade an. Praktisch ohne Verschnaufpause (zum Glück gab es die improvisierte Bar) wurde zu etwas feinfühligeren Ska- und Reggaerhythmen weitergetanzt. Melodien, die man auch schon irgendwo einmal gehört hatte (z.B.: A-Team Titelmusik) wechselten sich mit swingenden Easy-Listening Stücken ab. Zuweilen hatte man das Gefühl, erste Versatzstücke der Sommerhits 2017 in die Ohren geballert zu bekommen und dementsprechend ausgepowert wurde die Muskelkraft ihn den Beinen. Auch wenn sich die Atemluft im Industriestrassenkeller allmählich aus dem Staub machte, Publikum und Musiker dachten noch lange nicht ans Aufhören. Ja im Gegenteil: Die Bandmitglieder forderten selbst zur Zugabe auf und bescherten den Tanzwilligen einen Weitergang der musikalischen Weltreise. Wer nun dachte, der Abend sei vorüber, der hatte weit gefehlt. Nach dem mit Sicherheit günstigsten Coca Cola der Zentralschweiz (Stell dir mal vor, 1 CHF für 3 Deziliter!) präsentierte sich ein Überraschungs-Act als finales Understatement des SPACE CALL #1. Orges & The Ockus Rockus Band (kurz O.O.R.B.) scheuten die 850 Kilometer lange Fahrt von Wien nach Luzern nicht und sorgten mit ihrem balkanlastigen Rockabilly für das Entrinnen der allerletzen Schweissperlen. Der pumpende Sound des Trios, gewürzt mit viel Gipsy, wurde von der kratzigen Stimme des Sängers Orges Toce unterstützt. Erzählt wurden albanische Geschichten über Tiranas Strassen und die nachwievor zerrüttete Politik. Da die beiden vorherigen Bands dem Autor beinahe eine Überdosis an Tanzwut übertrugen, konnte dieser auch nicht bis zum Ende mithalten und ist sich sicher, das eine oder andere Quäntchen Gemütlichkeit beim Konzertausklang verpasst zu haben. Der SPACE CALL #2 ist aber schon mal vorgemerkt, obschon noch nicht klar ist wo, wann und mit wem er stattfinden wird.