Softes Vorspiel

An der Hochschule Luzern wird einiges an Erotischem produziert. Wenn es um die Fragen nach Möglichkeiten und Grenzen des Darstellens von Erotik in Animationsfilmen geht, so liegen die Antworten nahe. Aber wird das Potenzial bereits ausgeschöpft?

Heute wissen wir, dass die Art und Weise, wie wir unsere Welt wahrnehmen, stark mit unserer Sozialisation zusammenhängt. Unsere Vorstellungen von Erotik und Sexualität sind da keine Ausnahmen. Als Dauerbestseller kommen wir mit diesen Themen von klein auf in Berührung, in Kinderbüchern, Märchen und Disneyfilmen; wir kriegen mit, wie diese Themen in Familie und Schule besprochen (oder wie sie totgeschwiegen) werden, begegnen erotischen Inhalten in TV-Serien, Werbungen, Pornos, Magazinen und Nachrichten. So weit, so nicht gut.

Menschen tendieren dazu, ihre Vorstellungswelt an den vorherrschenden Narrativen auszurichten. Wie Eva Illouz und Dana Kaplan in der Einleitung zu ihrem Buch «Was ist sexuelles Kapital?» schreiben, unterliegen unsere Vorstellungen von Erotik und Sexualität veränderlichen gesellschaftlichen Kräften und werden von den Gesellschaften, in denen sie stattfinden, mitgeformt. Zwar haben Lockerungen der Regulierung der Sexualität dazu beigetragen, dass Erotik und Sexualität heute keine Tabuthemen mehr sind. Der Umstand aber bleibt bestehen, dass viele unserer heutigen Gesellschaften noch immer einer patriarchalen Ordnung und einem kapitalistischen System unterliegen, die sexuelle Gewalt an Frauen als Einzelfälle und Privatsache erklärt.

Keine sexuelle Freiheit mit ungleicher Machtverteilung
So waren es vor nicht allzu langer Zeit die drei grossen monotheistischen Religionen, welche die Sexualität – allen voran die weibliche – mit ihren Vorstellungen von Keuschheit und Jungfräulichkeit unerbittlich reguliert haben. Oder um es anders zu sagen: Über den Körper und das Begehren von Frauen verfügten in den meisten Gesellschaften über Jahrhunderte die Männer.

Die schlechte Nachricht zuerst: Noch immer sind es weisse, heterosexuelle Männer, die mehr Handlungsmacht als Frauen, People of Colour und LGBTIQ besitzen. Und wie Laurie Penny in «Sexuelle Revolution» schreibt, kann es keine sexuelle Freiheit geben, solange sexuelle Macht ungleich verteilt ist. Die gute Nachricht: Es ist ein Wandel im Gange, der die bestehenden Machtstrukturen gefährdet. Der laut Penny die einst grundlegenden sozialen Strukturen von Familie und Kirche zum Bröckeln gebracht und dazu geführt hat, dass Frauen und Queere «sich nicht mehr von Männern und ihrem fragilen Männlichkeitsbild in Geiselhaft nehmen» lassen. Diese neue sexuelle Revolution zielt auf die sexuelle Befreiung ab und ist feministisch. Sie trägt dazu bei, dass veraltete Vorstellungen und Rollenzuschreibungen, wie etwa Frauen seien von der Natur zu Gebärmaschinen
und unbezahlten Hausangestellten auserkoren, der Vergangenheit angehören. Sie bewirkt, dass Genderbinarität als Form der sozialen Kontrolle zunehmend ins Abseits gerät. Und sie trägt dazu bei, dass sich die bestehenden sexuellen Machtverhältnisse verändern.

 

Monique Renault: «À la vôtre» (1973)

 

Potenzial der Animationsfilme: «À la vôtre» und «Ivan’s Need» 
Hier liegt auch das grosse Potenzial von Animationsfilmen, solche feministischen und revolutionären Denkweisen aufzunehmen und wiederzugeben. In Bezug auf Erotik und Sexualität bedeutet dies: Je mehr erotische Darstellungen in Animationsfilmen mit den patriarchalen und kapitalistischen Narrativen brechen und dagegen feministische und queere Perspektiven auf diese Themen zeigen, desto mehr tragen sie zur Entstigmatisierung sowie Akzeptanz Letzterer bei und finden als reale Alternativen und Lösungen Eingang in die Köpfe der Menschen. Denn, um es mit den Worten von Laurie Penny zu sagen: «Eine Revolution beginnt nicht auf der Strasse. Eine Revolution beginnt im Kopf und im Herzen.»

Vor fast fünfzig Jahren hat die Niederländerin Monique Renault mit «À la vôtre» (1973) das Thema aufgegriffen und gezeigt, dass Animationsfilme neue und spannende Perspektiven aufzeigen können, wenn es um die Themen Erotik und Sexualität geht. Entgegen dem vor allem in der Pornografie verbreiteten Narrativ, in dem oft der Mann im Mittelpunkt steht und die Frau das Objekt seiner Lust und Befriedigung ist, stellt Monique Renault in ihrem Kurzfilm die Frau und ihre erotischen Wünsche ins Zentrum. Die Wichtigkeit dieser Umkehrung unterstreicht sie, indem der Mann nicht etwa lebensgross ist, sondern ein kleines Männlein, das, nachdem die Protagonistin befriedigt ist, von ihr in einem Glas Wasser wie eine Brausetablette aufgelöst wird. Seit «À la vôtre» ist viel passiert. Beispielsweise «Ivan’s Need» (2015), HSLU-Abschlussfilm von Veronica L. Montaño, Manuela Leuenberger und Lukas Suter. In diesem Kurzfilm werden wir Zeug:innen davon, wie der junge Bäckereigehilfe Ivan seine Sexualität entdeckt. Seine Obsession gilt dem Kneten von weichem Teig, die durch Entdeckung der weichen Brüste der Nachbarin neue Wege findet. Die Weichheit und die Art, wie Ivan den nackten weiblichen Körper erkundet, ist voller Güte. Und obwohl es Ivan ist, der hier etwas Neues entdeckt, schaffen es die drei Animator:innen, den nicht immer gleichen Blickwinkel zu zeigen und lediglich auf männliche Bedürfnisse einzugehen, sondern auch den weiblichen eine Bühne zu geben. Erfrischend und wichtig ist hier auch, dass nicht das männliche Geschlechtsorgan, sondern die Vulva und die Klitoris in den Mittelpunkt rücken – denn sexuelles Erwachen kann sehr wohl auch durch die Erkundung und das konsensuelle Kennenlernen der sexuellen Vorlieben des Gegenübers stattfinden.

 

Veronica L. Montaño, Manuela Leuenberger und Lukas Suter: «Ivan’s Need»(2015)

 

Umkehrung des Narrativs in «Sweet Nothing» 
Auch «Sweet Nothing» (2021) von Marie Kenov und Joana Fischer (HSLU) erzählt uns im Grunde genommen keine neue Geschichte. Neu oder in unserer Gesellschaft noch ungewohnt ist jedoch die Perspektive, aus der sie erzählt wird. Da liegt eine Frau im Liegestuhl und bräunt sich. Auf der anderen Seite der Büsche tränkt der Gärtner Wiese und Blumen. Das vorherrschende Narrativ – und so oft ist es schon in diversen Filmen und Medien vorgekommen – ist das des männlichen Spanners. Die Frau ist das Objekt, das über die Hecke begehrt wird und erotische Fantasien auslöst. Kenov und Fischer brechen diese männliche Sicht auf und kehren die Rollen gleich doppelt um. Statt lediglich den Gärtner in eine Gärtnerin und zur Spannerin zu verwandeln, bleibt der Gärtner seiner Rolle treu. Augen hat er nur für seine Blumen. Die Sonnenanbeterin dagegen wird zur Begehrenden, der Gärtner wiederum zum Objekt ihrer Lust. Solche Perspektiven weiblichen Begehrens und der weiblichen Lust sind enorm wichtig, um den hartnäckigen Vorstellungen von Passivität und dem scheinbar geringen weiblichen sexuellen Verlangen entgegenzuwirken. Ob der finale Ausbruch der Lust wirklich in einem Sonnencreme-Massaker enden musste, das in seiner Darstellung stark an die männliche Ejakulation (auf den Brustbereich) anspielt, bleibt allerdings fragwürdig. Hier hätte eine nasse Badehose oder die Darstellung weiblicher Ejakulation (Squirting) mehr zu deren Entmystifizierung beigetragen, because – und seien wir ehrlich – it’s a fact. 

 Das Schöne an Animationsfilmen im Gegensatz zu dokumentarischen Filmen ist, dass ihren Darstellungen von Gender, Erotik und Sexualität beinahe keine Grenzen gesetzt sind und sie dadurch immer wieder auf neue und positive Weise überraschen können. In «À la vôtre», «Ivan’s Need» und «Sweet Nothing» werden alte Rollenbilder hinterfragt, überwunden und neue weibliche Perspektiven geboten – ihr Potenzial ist aber noch nicht ausgeschöpft. In allen drei Kurzfilmen schwingt eine heterosexuelle und genderbinäre Komponente mit. Wir befinden uns hier also fast in einer Art softem Vorspiel, bei dem der Höhepunkt erst noch bevorsteht.


Weitere erotische Animationsfilme von HSLU-Abgänger:innen:

Lachsmänner
Joel Hofmann, Veronica L. Montaño, 
Manuela Leuenberger
CH, Juli 2020
Animation, 6 min.

Little Miss Fate
Joder von Rotz
CH, Mai 2020
Animation, 8 min.

Average Happiness
Maja Gehrig
CH, November 2019
Animation, 7 min.


 

041 – Das Kulturmagazin Mai 05/2022

Text: Valérie Hug

Valérie Hug ist freischaffende Schreiberin und an diversen Kultur- und Kunstprojekten beteiligt. So etwa bei der Literatur- und Spoken-Word-Reihe «lauschig», beim Magazin «HOX» oder mit Team mei mei an der Ausstellung «FAKTA».

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