Shakespeare goes Schwiizertüütsch

Gestern Abend hing eine graue Wolke über Tribschen. Grau war auch die Atmosphäre beim Premierenapéro. Der Regen mied jedoch ab Stückbeginn die Bühne des Freilichtspiels Luzern, das dieses Jahr mit der Shakespeare-Tragödie «Romeo und Julia» die Bretter bespielt.

(Von Emel Ilter, Bild zvg/Georg Anderhub)

Ein Abend in Verona. Statt des Flusses Adige und der Ponte Pietra regieren die Kulisse mitteleuropäische Pappeln, die Rigi und der Vierwaldstättersee. Kaum hat man die Symmetrie des Bühnenbilds wahrgenommen und abgehakt, schon gewinnt das Chaos die Oberhand: Die Familien Montague und Capulet – samt Greis und Spross – geraten sich wegen einer Lappalie in die Haare. Anscheinend befinden sich die Familien in einer ewig währenden Fehde. Wer kennt sie nicht, die Geschichte um «Romeo und Julia» und wie sie endet? Ein Klassiker. Der Name ist Programm. Wer einen Klassiker inszeniert, riskiert die Frage danach, was das Besondere an gerade dieser Inszenierung sei. Regisseur Livio Andreina will das zeitlose Stück «in einer Sprache unserer Zeit» erzählen. Ausstatterin Anna Maria Glaudemans Andreina will die unsterbliche Geschichte von Romeo und Julia mit zeitlich ungebundenen Kostümen repräsentieren. Übersetzerin Gisela Widmer will «Kunst- statt Alltagssprache» verwenden, um sich vom Vertrauten abzuheben. Also in welcher Zeit-, Raum- und Sprachebene befinden wir uns nun? Das Freilichtspiel hätte die Chance, einen einmaligen Theaterraum zu (er)schaffen. Jedoch gibt es nur wenige Szenen, die einen Unterschied zum klassischen Guckkastentheater markieren. Ein Fluss trennt die Bühne durch ihre Mitte, eine Brücke verbindet beide Seiten. Doch der Gebrauch dieser symbolträchtigen Elemente wird schnell undurchsichtig. «Ambivalent» wird zum Synonym von «kryptisch». Gänsehaut erzeugten hingegen jene Momente, die zum Teil nicht vorhersehbar waren: Auf einmal schippert der Willhelm-Tell-Express durchs Bild oder Romeos Wehklage um Julias Tod schallt von den entfernten Hügeln und Ebenen wieder. Schade ist, dass eben erst in diesen vereinzelten Momenten deutlich wurde, wo man sich eigentlich befand, nämlich auf einer Bühne im Freien. Die Besetzung der Hauptrollen mit Judith Koch als Julia und Roger Kaufmann als Mercutio ist entscheidend für das schauspielerische Niveau, das durch jene definitiv aufgewertet wird. Die Sicherheit in Körperhaltung und -bewegung und die dem Charakter entsprechende Bühnensprache wirken stark und bestimmt. Christoph Keller interpretiert die Figur des Romeo mit einer ruhelosen Fiebrigkeit, die den Zuschauer daran erinnert, dass die Protagonisten eigentlich Teenager sind. Teenager mit einer beachtlichen Verantwortung. Gegen Ende mutiert Romeo zum Action(anti)helden. Die Nachricht von Julias vermeintlichem Tod transformiert den impulsiven, gleichzeitig feinfühligen Montague-Sprössling plötzlich zur Maschine mit Kalkül. Abseil-Stunts, verruchte Deals mit wuchernden Quacksalvern; all das wurde nicht zuletzt durch Licht und Musik auf eine Krimi-mässige Situation heruntergebrochen. Warum genau ist Romeo plötzlich so klar im Kopf und so berechnend? Es ist das Schicksal, dem er trotzen will, indem er seinen eigenen Tod plant. Romeo und Julia sind «a pair of star-cross'd lovers», wie es schon im Prolog des Originaltextes heisst, eine vom Schicksal als Unglück bestimmte Liebe. Und genau an dieser späten Stelle der Inszenierung wird deutlich, dass diese katastrophale Bestimmung kaum auf der Bühne thematisiert wurde. Um ein Beispiel zu nennen: In der Balkonszene kurz vor Romeos Flucht fehlte die entscheidende Voraussage Julias, die sich schliesslich bewahrheitet: «O God, I have an ill-divining soul! / Methinks I see thee, now thou art below, / As one dead in the bottom of a tomb: / Either my eyesight fails, or thou look'st pale.» (Akt III, Szene 5) Dass die Verweise auf die Fügung fehlen, mag dem ein oder anderen als unwichtiges Detail vorkommen. Das Thema Schicksal mag in der Auslegung von Gisela Widmer schlichtweg keine Rolle spielen. Doch wenn weder Schicksal noch der freie Wille im Stück zur Sprache kommen, fehlt es dem Shakespeare’schen Drama vehement an Dynamik. Man möge gar das Fehlen einer Metaebene an sich behaupten. Das Stück «Romeo und Julia», wie es für das Freilichtspiel Luzern geschrieben und umgesetzt wird, ist reine Handlung. Was also das Besondere an dieser Inszenierung des Klassikers «Romeo und Julia» ist, bleibt mit Fragezeichen versehen. «Zum Gaffen hat das Volk die Augen» (Mercutio) und zum Monieren den Mund: «Was brauchst du ein Schwert? Nein, Konzept, ein Konzept!» (Frei nach Lady Capulet)

Bis 20. Juli, Richard-Wagner-Museum Tribschen. www.freilichtspiele-luzern.ch