«Schauen ist ein sehr sinnlicher Akt»

Fanni Fetzer, seit elf Jahren Direktorin des Kunstmuseums Luzern, erhält den Innerschweizer Kulturpreis. Wir treffen sie im Magdi, um auf ihren Preis anzustossen und mit ihr über Begehren und Erotik in der Kunst zu sprechen. All dies, während wir selber etwas ausgesprochen Lustvolles tun, nämlich: gemeinsam eine Mahlzeit verzehren.

Die Beiz St. Magdalena an der Eisengasse in der Luzerner Altstadt, den meisten bekannt als Magdi, ganz ohne katholischen Zusatz, war bis in die 1940er-Jahre Teil des Luzerner Rotlichtmilieus. An diesem historischen Schauplatz, der im Zeichen der Erotik steht, treffen wir die Direktorin des Kunstmuseums Luzern, Fanni Fetzer, auf ein gemeinsames Mittagessen. Unser Tischgespräch widmet sich dem Genuss in der Kunst und auf der Zunge. Währenddessen werden uns von den Betreiber:innen des Magdi, Martina Odermatt und Thomas Pollet, vegetarische Häppli serviert, die unsere Sinne ins Schwärmen bringen.

Liebe Fanni Fetzer, wir gratulieren dir zum Innerschweizer Kulturpreis! Du bist erst die achte Frau, die diesen Preis entgegennehmen durfte, obwohl er seit 1951 an 73 Personen verliehen wurde. Was bedeutet das für dich?
Fanni Fetzer: Ich hatte überhaupt nicht damit gerechnet! Erfahren habe ich es bei einem Mittagessen mit Regierungsrat Marcel Schwerzmann, bei dem man mir im Vorfeld nicht gesagt hat, um was es geht. Die Freude darüber ist natürlich gross – aus verschiedenen Gründen. Wenn man die Liste anschaut, dann haben vor allem Kulturschaffende den Preis bekommen – und ich bin Kulturvermittlerin. Gleichzeitig ist es eine Auszeichnung, die nicht von einer Expert:innenkommission für zeitgenössische Kunst verliehen wird, sondern von Menschen aus der Region, was mir zeigt, dass sie meine Arbeit verstehen.

Deine Arbeit als Kuratorin wurde stets als feministisch bezeichnet. Wie stehst du dazu?
Ich bin Feministin und versuche, ein feministisches Programm zu machen. Die Schweiz hinkt in solchen Diskussionen im Vergleich zum angelsächsischen Raum hinterher. Aber ich sehe einen Fortschritt: Im neuen Leistungsauftrag der öffentlichen Hand zum Beispiel geht es plötzlich um Diversität im Programm – davon stand vorher nichts drin.

 

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Bild: Claudia Schildknecht

 

Forderungen nach Diversität haben den Weg in die Leistungsvereinbarungen der öffentlichen Hand gefunden. Bedeutet das nun, dass diese Themen in Kulturinstitutionen angekommen sind?
Es ist Mainstream geworden, was toll ist. Nun müssen wir eher aufpassen, dass nicht nur weisse, mittelständische und gut gebildete Frauen eine Plattform bekommen, und uns fragen, wie wir das, was wir aus dem Prozess gelernt haben, auch für andere marginalisierte Gruppen nutzen können.

Mit «Talk to the Sky ’Cause the Ground ain’t Listening» hast du 2012 deine erste eigene kuratierte Einzelausstellung im Kunstmuseum Luzern der tschechischen Künstlerin Kateřina Šedá gewidmet. Wolltest du damit ein Statement setzen?
Im ersten Jahr fühlte ich mich narrenfrei: Alle schauten genau, was ich mache, aber es war auch klar, dass mir einige Zeit für Experimente gewährt wird. Ich wollte nicht mit einer etablierten und auch nicht mit einer sogenannt «schönen» Ausstellung anfangen und hatte vor, mich klar vom Programm meines Vorgängers zu unterscheiden. Er hat viele Künstlerinnen gezeigt, aber für mein Empfinden behandelten diese Positionen zu stark ästhetische Fragen. Ich interessiere mich sehr für Politik und auch für politische Kunst, und Kateřina Šedás Arbeiten sind formal wie auch inhaltlich stark. Trotzdem sind sie verspielt und lassen einen Interpretationsraum offen. Ausserdem wollte ich eine junge Künstlerin einladen, die in der Schweiz noch nicht in diesem Umfang gezeigt wurde. 

Nationale und internationale Künstlerinnen sind in aktuellen Ausstellungen in der Schweiz derzeit enorm präsent. Yoko Ono in Zürich, Georgia O’Keeffe in Basel wie auch Jenny Holzer, die Louise Bourgeois kuratiert, oder Heidi Bucher in Bern. Ist das ein Trend oder gar ein Paradigmenwechsel?
Kritisch könnte das einfach als Mode bezeichnet werden. Möglicherweise ist es aber auch einfach so, dass vermehrt Kuratorinnen und Direktorinnen die Entscheidungen auch an grösseren Museen treffen. Aber auch das Publikum hat sich verändert, was einen extremen Einfluss darauf hat, was Leute interessant finden. Bei der Ausstellung von Kateřina Šedá bin ich erst auf viel Widerstand gestossen. Das fing bei der Aussprache ihres Namens an oder bei ihrer Herkunft. Als ich später Marion Baruch zeigte, waren die Besucher:innen schon viel offener und meinten: «Ah, sie sind wie Šedá, die kennen wir noch nicht.» Das Gleiche bei Vivian Suter – oder Heidi Bucher, die Fachleuten bekannt ist, dem Publikum aber noch nicht.

 

 

«Das Publikum hat sich verändert, was einen extremen Einfluss darauf hat, was Leute interessant finden.»

 


Vegetarische Vorspeisen werden serviert. Thomas Pollet, Koch und Co-Betreiber vom Magdi, führt durch die einzelnen Teller: Es gibt hausgemachtes Sauerteigbaguette mit Popcornbutter, Rüeblitatar mit Kapern und obendrauf sauer eingelegte Pfälzer Rüebli und Chorizokarotten, eingerieben mit Srirachasalz und im Ofen geröstet. Poireau in Vinaigrette pochiert mit Crème aus dem Grünen vom Lauch. Stracciatella mit knusprigem Lauchstroh, Quinoaballs mit Apfelchutney und Pastinakensticks mit luftiger Mayonnaise.
 

Nach William Turner folgt im Sommer dein nächstes Grossprojekt: «Moving Focus» mit David Hockney. Seine Homosexualität hat der britische Künstler in den 60ern in seinen Arbeiten codiert vermittelt und erst, als er nach Los Angeles zog, offen sein Begehren thematisiert. Er zeigt Männerpaare im Bett oder Duschszenen – «Man in Shower in Beverly Hill» wäre ein solches Gemälde.
Wir haben lange diskutiert, ob wir dieses Bild als Ausstellungsaufhänger nehmen sollen, und haben uns dann dagegen entschieden, weil es zur Einladungskarte oder zum Plakat zugeschnitten lediglich einen Mann von hinten gezeigt hätte, der uns seinen Po entgegenstreckt – das wäre dem vielseitigen Schaffen von David Hockney nicht gerecht geworden. Aber ich finde Hockneys Form von erotischer Darstellung wahnsinnig berührend, weil sie so normal und alltäglich ist; nicht übersexualisiert, nicht pornografisch, bei ihm gibt es keine voyeuristischen Schlüssellochbilder. Als Betrachter:in merkst du, dass Hockney mit den gezeigten Menschen befreundet war, er lädt dich ein, einen genauso vertrauten und intimen Blick auf sein Umfeld einzunehmen.

Erotik ist mehr als das, was sich im Schlafzimmer zuträgt. Inwiefern verlangt Kunst von uns, Erotik gegen den Strich zu lesen? Und diese damit auch in einem erweiterten, sich je nach Perspektive verändernden Sinne zu verstehen?
Erotik als ein durchaus ambivalentes Verlangen kommt etwa bei der deutschen Künstlerin Rosemarie Trockel zum Ausdruck. Ihr geht es in ihren Arbeiten stark um das Körperliche, das Weibliche. Auf einem Strickbild von ihr heisst es: «Bitte tu mir nichts!» – «Aber schnell!» Diese ambivalente Angst-Lust mit der angedeuteten Gewalt hat etwas sexuell Aufgeladenes. Um Erotik zu implizieren, müssen keine Brüste und Penisse gezeigt werden – das meiste spielt sich in unseren Köpfen ab.

Nennst du uns ein besonders erotisches Werk in der Sammlung des Kunstmuseums Luzern?
Sehr sinnlich finde ich die Werke von Gotthard Graubner. Diese grossen, dick gepolsterten Bilder wecken die Lust, die Schultern daran anzulehnen und die Oberflächen mit den Fingern abzutasten, um herauszufinden, ob sie so weich sind, wie sie aussehen. Im Museum darf man ja nichts berühren, man muss Distanz halten – das Begehren zügeln. Diesem unerfüllten Verlangen haftet natürlich auch etwas Erotisches an.

 

 

«Um Erotik zu implizieren, müssen keine Brüste und Penisse gezeigt werden – das meiste spielt sich in unseren Köpfen ab.»

 

Der Akt des Betrachtens ist oftmals ein sehr lustvoller. Demnach auch ein erotischer?
Wir haben so viele Bilder in unserer Welt und kümmern uns oft nur darum, ob wir gut sehen im Sinne von scharf sehen. Aber Schauen besteht aus weitaus mehr: Es braucht Zeit, alle Details zu erfassen, der Blick wandert, Vorwissen wird abgerufen, Erkenntnis wächst, eine Beziehung zum Gesehenen entsteht. Das ist ein sehr sinnlicher Akt.


Es folgen weitere Speisen, diesmal eingeführt von Martina Odermatt, Magdi-Co-Betreiberin. Vor uns, in einer grossen blauen Keramikschale, haben wir Semmelknödel, daneben einen ganzen geschmorten Sellerie mit Persillade, Rüeblipüree mit einer Rande aus dem Ofen, darauf Bärlauchvinaigrette.
 

Die Speisen, die hier serviert werden, sind der Kunst gar nicht so fremd. Allein das Betrachten dieser farbigen, sorgfältig drapierten Teller stimuliert die Sinne. Was ist denn für dich ein besonders sinnliches Gericht?
Jedenfalls nichts Püriertes! Von der Farbe her eine Randensuppe oder ein Borschtsch, die Zunge möchte die verschiedenen Geschmäcker und Konsistenzen ertasten.

Ich finde Fladenbrot sehr sinnlich. Ein grosses, das man beim Teilen abreisst, das innen weich und aussen knusprig ist, mit einer Kruste, die leise knirscht, wenn man sie drückt. (GR)
Frisches Brot sowieso, vor allem der Geruch.

 

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Bild: Claudia Schildknecht

 

«Zeitgenössische Kunst provoziert zwei Sätze sehr häufig: ‹Das könnte ich auch› oder ‹Ich bin zu dumm, um das zu verstehen›. Beim Essen hat niemand das Gefühl, zu dumm dafür zu sein. Gemeinsame Mahlzeiten haben auch etwas Rituelles, sie sind eine schöne Geste.»

 

Mir hat sich die Papaya als erotische Frucht eingeprägt. Seit ich «Aus der Zuckerfabrik» von Dorothee Elmiger gelesen habe, wo sie beschreibt, wie sie die Papaya auslöffelt, deren Samen sachte aus dem weichen, tropfenden Fruchtfleisch entfernt. (RM)
Ich finde Papayas geschmacklich langweilig (lacht).

In der Kunst ist es aber durchaus so, dass Essen häufig als Metapher für Lust und Begierde verwendet wird.
Das sind in erster Linie natürlich Codes, Austern oder Feigen beispielsweise, die mit dem weiblichen Geschlecht assoziiert werden. Das stammt aus einer Zeit, wo man Erotik und Sexualität nicht explizit darstellte und Symbole benötigte, um auf Sexualität zu verweisen. Heute begegnet man diesen Codes immer noch überall. Die Schweizer Künstlerin Klodin Erb zum Beispiel hat in ihren «Babel & Bubbles»-Malereien ganze Sätze auf Sprechblasenleinwänden nur mit Emojis geschrieben – auch solche mit Auberginen und Pfirsichen (zwinkert).

Kann das gemeinsame Zubereiten von oder das Zusammensitzen beim Essen auch einen Zugang zur zeitgenössischen Kunst ermöglichen? Wir denken da an Künstlerinnen wie zum Beispiel Sandra Knecht, die etwa ein Fünf-Gänge-Menü zur Performance erhebt.
Zeitgenössische Kunst provoziert zwei Sätze sehr häufig: «Das könnte ich auch» oder «Ich bin zu dumm, um das zu verstehen». Beim Essen hat niemand das Gefühl, zu dumm dafür zu sein. Gemeinsame Mahlzeiten haben auch etwas Rituelles, sie sind eine schöne Geste.

Ist Kochen denn etwas, das in deinem Alltag wichtig ist?
Ja! Und mit Betonung auf Alltag: Ich habe keine fancy Kochbücher zu Hause und bekoche meine Gäst:innen lieber mit einfachen Dingen, etwa selbstgemachter Mayonnaise, Spargeln vom Bio-Hof, frischen Kartoffeln – und zum Dessert vielleicht Meringue mit Rhabarberkompott. Das Zubereiten solcher Mahlzeiten hat etwas Meditatives und auch Sinnliches für mich, ich halte gerne Gemüse in der Hand oder wasche Salat.

 

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Bild: Claudia Schildknecht

 

Hunger, Lust, Genuss – die Sprache des Essens ist auch die Sprache der Erotik. Und sie ist auch der Kunst und dem Kunsterleben nahe, oder?
Dazu gehört übrigens auch das Verdauen – Kunst muss auch verdaut werden. Und ja, dahinter steht das menschliche Bedürfnis nach sinnlicher Stimulation. Und das nicht nur intellektuell oder digital. Für mich sind Ausstellungen am beglückendsten, wenn sie gleichermassen sinnlich und intellektuell sind. Vielleicht greift Ersteres eher und zieht in den Bann – um danach aber auch zum Nachdenken anzuregen.

Fanni Fetzer erhält den Innerschweizer Kulturpreis 2022. Der Preis würdigt ihr Engangement für die Kunst, die hohe Qualität ihrer Arbeit sowie ihr vielfältiges Ausstellungs- und Veranstaltungsprogramm, das in der Region verwurzelt ist und weit über die Zentralschweiz hinaus Resonanz auslöst.

 


041 – Das Kulturmagazin Mai 05/2022

Text: Gianna Rovere und Robyn Muffler
Bild: Claudia Schildknecht

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